EM 2024: Cristiano Ronaldo war das Hindernis des portugiesischen ...

Cristiano Ronaldo und der Trainer verweigerten sich der Realität – und darum scheiterte Portugal

Der Spieler mit den meisten Einsatzminuten blieb ohne Tor. Das traurige Schauspiel könnte sich an der WM 2026 wiederholen

Ronaldo - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Nicht wirklich auf einem Höhenflug: Cristiano Ronaldo (oben) im Viertelfinal gegen die Franzosen.

Imago

Die portugiesischen Fans im Hamburger Volksparkstadion feierten ihre Mannschaft am späten Freitagabend trotz dem Ausscheiden. Die Zeitungen lobten sie ebenso, jedenfalls für dieses letzte Spiel. Man übernahm nach dem 0:0 und dem Out im Elfmeterschiessen gegen Frankreich die Interpretation von Trainer Roberto Martínez, dass der Fussball manchmal eben «grausam» sei und die Seleção das Turnier «erhobenen Hauptes» verlassen könne.

Portugal müsste sich nach dieser EM allerdings selbst Vorwürfe machen. Wer in 240 Minuten der K.o.-Runde keinen Treffer zustande bringt – das Achtelfinale wurde nach 0:0 im Elfmeterschiessen gegen Slowenien bestanden –, der braucht das Schicksal nicht zu beklagen. Der Trainer hätte zum Beispiel versuchen können, durch Auswechslungen in der Angriffsformation sein Glück zu erzwingen. Doch dort stand Cristiano Ronaldo. Und der war trotz seinen 39 Jahren unauswechselbar. Selbst als der 14 Jahre jüngere Kylian Mbappé seinen Trainer Deschamps in der Verlängerung wegen Müdigkeit um Erlösung bat, hielt Martínez unbeirrt an Ronaldo fest.

Das portugiesische Team hat seine Obsession teuer bezahlt

Der Fussball-Oldie hat mit 486 Einsatzminuten an dieser Europameisterschaft mehr Zeit auf dem Rasen verbracht als jeder andere Feldspieler. Nur im bedeutungslosen letzten Gruppenmatch gegen Georgien wurde er für die letzten 25 Minuten vom Feld genommen, weil er am Rande eines Platzverweises stand. Erstaunlich war jedoch, dass er in dieser Partie überhaupt zum Einsatz kam, denn Martínez schonte alle anderen Feldspieler.

Alle bis auf einen 39-Jährigen, der seiner Obsession nachjagte, auch an der sechsten EM-Endrunde mindestens ein Tor zu erzielen. Er schaffte es nicht, und Portugal, das in Alternativen wie Diogo Jota, Gonçalo Ramos oder João Félix so viele Sturmtalente hat wie kaum eine andere europäische Nation, hat diese Obsession teuer bezahlt.

In seinem Land hat der grösste Portugiese seit Vasco da Gama einen derartigen Legendenstatus erreicht, dass er in den Medien von Schuldvorwürfen weitgehend verschont bleibt. Doch das ist purer Eskapismus. Es schmerzte, zuzusehen, wie Ronaldo in der ersten Halbzeit von Frankreichs Abwehrchef William Saliba in Zweikampf wie eine Schmeissfliege abgeschüttelt wurde. Wie er in der zweiten Halbzeit einen aussichtslosen Freistoss in die gegnerische Mauer schoss. Wie er zu Beginn der Verlängerung allein im Strafraum den Ball näher an die Zuschauerränge brachte als ans Tor.

Zu seinen grossen Zeiten ist Ronaldo an Widerstand immer gewachsen. Je stärker er unter Beobachtung stand, desto sicherer konnte man sich auf drei Tore im nächsten Spiel verlassen. Jetzt nicht mehr, diesen Mythos hat Ronaldo bei der letzten EM-Gelegenheit durch seine fatale Obsession beschädigt. Eine weitere Europameisterschaft wird es für ihn nicht mehr geben, das hat er dieser Tage im portugiesischen Fernsehen schon gesagt.

Ronaldo versuchte sich in erhöhter Teamfähigkeit

Der produktivste Torjäger der Fussballgeschichte ist nie ein so von Natur aus begabtes Genie gewesen wie sein ewiger Rivale Lionel Messi, sondern in erster Linie ein beeindruckender Athlet. Logischerweise leidet er dadurch auch mehr unter dem Verlust jugendlicher Spritzigkeit als etwa Messi, der Argentinien vor anderthalb Jahren noch zum WM-Titel führte. In seinem Versuch, trotzdem noch wertvoll zu sein, versuchte sich Ronaldo an dieser EM in erhöhter Teamfähigkeit.

Gegen die Türkei spielte er einen Pass zum besser postierten Bruno Fernandes, als er selbst einem Treffer nahe schien. Denselben Kollegen liess er gegen Frankreich kurz vor der Halbzeit sogar einen Freistoss schiessen, zu dem auch er selbst sich schon gewohnt breitbeinig aufgestellt hatte. Aber das grösste Opfer für das Team, das hat er nicht gebracht: wie Mbappé auch einmal auf ein paar Spielminuten zu verzichten. In einem Trainer, der sich mit derselben Hartnäckigkeit der Realität verweigerte, fand er dabei den perfekten Komplizen.

Beide, Ronaldo wie Martínez, werden wohl bis zur WM 2026 weitermachen. Es fällt gerade schwer, daran zu glauben, aber vielleicht bekommt Ronaldo dann ja den grossen Abschied vom Länderfussball, den seine Karriere zweifellos verdient hätte.

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