Die Lage am Morgen: Ab wann ist eine Offensive eine Großoffensive?

29 Mai 2024

Die Rafah-Offensive geht trotz Kritik weiter

Trotz internationaler Kritik und einer Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs setzt Israel die Offensive in Rafah fort: Gestern fuhren erstmals israelische Panzer durch das Zentrum der Stadt. US-Präsident Joe Biden hatte vor zwei Monaten gesagt, mit einer Invasion in Rafah wäre eine »rote Linie« überschritten, er drohte für diesen Fall mit dem Stopp von Waffenlieferungen. Die bisherige Offensive überschreitet diese Linie offenbar bisher nicht. Das US-Außenministerium betonte, man wolle keine »große Bodeninvasion« wie in anderen Teilen des Gazastreifens sehen – doch bisher sehe man auch keine. Man beobachte die Lage.

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Vertriebenenlager in Rafah am Dienstag, im Hintergrund: Rauch von Kampfhandlungen

Foto: Haitham Imad / EPA

Laut israelischen Medien sind fünf Brigaden mit Tausenden Soldaten und Panzern rund um die Stadt im Einsatz. Ab wann ist eine Offensive also eine Großoffensive, wann ist die rote Linie überschritten? Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan hatte bereits vergangene Woche gesagt, es gebe dafür »keine mathematische Formel«. Man werde »darauf achten, ob diese Operation viel Tod und Zerstörung verursacht oder ob sie präziser und verhältnismäßiger ist«.

Für Biden ist es ein höchst komplizierter Balanceakt. Eigentlich hätte es ihm eine Lehre sein sollen, dass schon Barack Obama einst eine »rote Linie« zog und dadurch in Schwierigkeiten geriet. Die Umstände waren damals ganz andere: 2012 wollte Obama den Einsatz von Giftgas durch Syriens Diktator Assad ausschließen. Als Assad dennoch Giftgas einsetzte und keine Konsequenzen folgten, wurde diese »rote Linie« zum Sinnbild der Obama-Außenpolitik.

Die israelische Armee erklärte inzwischen, die umfassende Zerstörung nach einem Luftangriff auf ein Vertriebenenlager am Sonntag – bei dem Dutzende Menschen starben – könne nicht allein durch die verwendeten Bomben entstanden sein. Diese gehörten zu den kleinsten, über die man verfüge. Man habe ein Ziel beschossen, das von den Zelten entfernt gewesen sei, es habe »Sekundärexplosionen« gegeben, womöglich ein Waffenlager. Das Ziel sollen zwei Hamas-Funktionäre gewesen sein.

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Dass ein Militärschlag in oder bei einem Vertriebenenlager mit Risiken für die Zivilbevölkerung verbunden ist, ist natürlich in jedem Fall wahr.

Am Dienstag gab es Berichte über einen weiteren tödlichen Angriff mit Panzermunition, der sich in der designierten Sicherheitszone Mawasi ereignet haben soll, angeblich sollen laut der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa 21 Menschen getötet worden sein. Die israelische Armee bestritt jedoch, dort Angriffe durchgeführt zu haben. Alle diese Berichte können derzeit nicht unabhängig verifiziert werden.

Etwa eine Million Palästinenser sind seit Anfang Mai aus Rafah geflohen, gab die Uno am Dienstag bekannt. Hunderttausende befinden sich jedoch immer noch dort.

Verheerender Angriff in Rafah: »Beim Einschlag dachte ich an meine Kinder«

Das Kabinett beschließt ein Rentenpaket – auf Kosten der Jungen

Das Bundeskabinett will heute mehrere Maßnahmen zur Rente beschließen, das sogenannte Rentenpaket. Damit soll das Rentenniveau bis mindestens 2039 auf dem heutigen Stand gehalten werden.

Finanzminister Lindner (l.), Arbeitsminister Heil im März bei einem Pressestatement zum geplanten Rentenpaket

Foto: Michael Kappeler / dpa

Die Regierung will zudem Kredite aufnehmen und das Geld in Aktien investieren; die Gewinne daraus sollen ab den 2030er-Jahren helfen, die Rentenkassen zu entlasten. Diese Maßnahme ist von dem übrig geblieben, was die FDP einmal als »Aktienrente« versprochen hatte – viele Kritiker glauben allerdings nicht, dass sie viel bringt und die Kosten dennoch auf die nachfolgenden Generationen abgewälzt werden. Die Arbeitgeber prognostizieren, dass trotz allem die Lohnzusatzkosten weiter steigen.

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Mein Kollege Rasmus Buchsteiner sagt: »Dieses Rentenpaket ist megateuer. Und doch wirkt es verzagt. Die Koalition rettet sich damit irgendwie über die Zeit. Nächste Wahlperiode wird die Rentendebatte noch einmal völlig neu geführt werden müssen. Bei der Bundestagswahl 2021 waren Grüne und FDP stolz auf ihre starken Werte bei Erst- und Jungwählern. Mit dieser Politik verschrecken sie genau diese Zielgruppe – ein gefährliches Spiel.«

Lesen Sie seinen Text zum Rentenpaket hier:

Umstrittene Reform: Warum die FDP nun doch beim Rentenpaket einschwenkt 

Verliert der ANC in Südafrika heute erstmals seit 1994 die absolute Mehrheit?

Die Südafrikanerinnen und Südafrikaner wählen heute ein neues Parlament – 30 Jahre nach dem Ende der Apartheid. Doch der Regierungspartei ANC drohen heftige Verluste, sie könnte sogar erstmals ihre absolute Mehrheit verlieren und eine Koalition bilden müssen. Seit der Wahl von Nelson Mandela 1994 hat der ANC stets allein regiert.

Eine Frau in Johannesburg passiert Wahlplakate

Foto: Themba Hadebe / AP

Es wird erwartet, dass Staatspräsident Cyril Ramaphosa von der neuen Regierung dennoch für eine zweite Amtszeit nominiert wird. Doch der Frust in der Bevölkerung sitzt tief, insbesondere wegen der massiven Korruption in der Regierungspartei. Und weil die Wirtschaft nicht läuft: Das Durchschnittseinkommen sinkt seit mehr als zehn Jahren, rund ein Drittel der Menschen ist arbeitslos – bei den unter 24-Jährigen sind es sogar 60 Prozent. Zudem ist die Infrastruktur marode, Wasser und Strom fallen oft aus, in den Townships herrscht Kriminalität, die Mordrate ist sehr hoch – gleichzeitig gehören weiterhin 70 Prozent des Farmlands weißen Südafrikanern.

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Lesen Sie dazu den Text unseres Afrikakorrespondenten Fritz Schaap:

Wahlen in Südafrika: Verliert der ANC zum ersten Mal seine absolute Mehrheit? 

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Die Startfrage heute: Welches dieser Länder ist ein Binnenstaat?

Verlierer des Tages…

Papst Franziskus

Foto: Vatican Media / REUTERS

…ist der Papst. Er soll bei einem privaten Treffen mit italienischen Bischöfen ein abwertendes italienisches Schimpfwort verwendet haben, um homosexuelle Männer zu beschreiben, und musste sich deswegen entschuldigen. Zur Frage, ob offen homosexuelle Männer in Priesterseminare aufgenommen werden sollten​, habe er gesagt: Die Seminare seien bereits zu voll mit »frociaggine«, was man auf Deutsch ungefähr mit »Schwuchteligkeit« übersetzen würde. Die Äußerung löste Empörung aus, der Vatikan reagierte schnell und gab eine Erklärung des Papstes ab. Er habe niemanden beleidigen wollen.

Das zeigt einmal mehr: Bei Papst Franziskus weiß man nie genau, woran man ist. Er hat sich in der Vergangenheit vergleichsweise liberal über queere Menschen geäußert und sagte in Bezug auf sie einmal: »Wer bin ich, um zu urteilen?«. Er gab auch die Erlaubnis, Menschen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen segnen zu lassen, allerdings nicht die Beziehungen selbst. Vom Papst erhofften sich 2013 bei seiner Wahl viele Menschen Reformen. Doch er musste innerhalb der Kirche navigieren zwischen widerstreitenden Strömungen und fand zu vielem nie eine Haltung. Dass ihm ein schwulenfeindlicher Spruch rausrutscht, ist vielleicht charakteristisch für einen Papst, der sich in vielen gesellschaftlichen Fragen nie entscheiden konnte, ob er liberal oder konservativ sein will.

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Vorfall im Vatikan: Franziskus räumt Verwendung von homophobem Ausdruck ein

Ex-Bürgermeister Leoluca Orlando: »Schande für die EU«

Foto: Gianni Cipriano / The New York Times / Redux laif

Mahner vom Mittelmeer: Seit Jahrzehnten kämpft Leoluca Orlando gegen die Mafia. Jetzt will der Ex-Bürgermeister von Palermo ins EU-Parlament einziehen – mit einer besonderen Agenda: Als »Stimme für Menschenrechte« wirbt er für die Aufnahme von Millionen Flüchtlingen. »Es ist eine Schande für die EU, was hier passiert. Wir töten die Menschen im Meer.« Mein Kollege Timo Lehmann hat Orlando auf Sizilien besucht. 

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihr Mathieu von Rohr, Leiter des SPIEGEL-Auslandsressorts

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