Wirtschaftsforum St. Petersburg: Putin lehnt Atomwaffen-Einsatz ab
Putin spricht sich gegen den Einsatz von Atomwaffen aus
Provoziert von einem radikalen Hardliner, hat der russische Präsident bei einer Gesprächsrunde in St. Petersburg die Forderung nach präventiven Nuklearschlägen zurückgewiesen. Seinen Amtskollegen Selenski sieht Putin nicht als einen würdigen Verhandlungspartner.
Anton Vaganov / AP
Am diesjährigen Wirtschaftsforum in St. Petersburg hat sich der russische Präsident Wladimir Putin in einer eher ungewohnten Situation wiedergefunden. Er musste ständig mässigend, ja abwehrend, auf die Forderungen antworten, die der Moderator der Diskussion in seine Fragen verpackte. Jedes Jahr ist es eine Überraschung, wen der Kreml mit der Moderation der Veranstaltung betraut, an der Putin sowie geladene Staatsoberhäupter Reden halten und anschliessend ein Gespräch führen. Diesmal wählten die Verantwortlichen den scharfzüngigen, leidenschaftlich antiwestlichen Politologen Sergei Karaganow für die Rolle aus – Putin schien es fast etwas zu weit zu gehen.
Selenski für Putin ein UsurpatorKaraganow, der einst mit Russlands Westintegration sympathisierte, ist zu einem radikalen «Falken» geworden. Vor einem Jahr brachte er einen präventiven Atomschlag gegen ein Ziel in Europa ins Spiel, um den Westen mit Blick auf den Ukraine-Krieg in die Schranken zu weisen. Die USA, so seine Überzeugung, würden den Europäern nicht zu Hilfe eilen und zu keinem Gegenschlag ausholen, weil sie um die Konsequenzen für sich selbst wüssten. Obwohl er in Fachkreisen mehrheitlich auf Ablehnung stiess, scheint Karaganow an seiner These festzuhalten.
Es sei für Russland unabdingbar, das Tempo der Kampfhandlungen im Krieg zu beschleunigen und die Eskalation zu suchen, auch mit Atomwaffen. Putin wehrte beides vehement ab. Eine höhere Geschwindigkeit des Krieges wäre nur unter grösseren Verlusten möglich, meinte er; ihm sei aber die Rücksichtnahme auf die Menschenleben wichtiger. Angesichts der bisherigen Kriegführung klingt das wenig glaubwürdig.
Noch deutlicher wies er Karaganows Gedankenspiele um den Einsatz von Atomwaffen zurück. Amerika würde zwar wohl seine Verbündeten in Europa im Stich lassen, meinte er. Aber er verwahrte sich gegen die weitere Erwähnung solcher Pläne. Russland sei zwar mit seinem Arsenal im Vorteil. Es gebe jedoch absolut keine Notwendigkeit, in diesem Krieg die nukleare Karte zu ziehen. Im Unterschied zu Karaganow konnte er auch Friedensverhandlungen etwas abgewinnen. Bedingung dafür seien die bereits erzielten Verhandlungsergebnisse vom Frühjahr 2022 sowie die «Realitäten auf dem Boden», also die erzielten Territorialgewinne.
Dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski sprach er zugleich die Legitimität ab, weil dessen Amtszeit abgelaufen sei und in der Verfassung nichts über eine Verlängerung stehe (was allerdings nicht stimmt). Putin stellte seinen Amtskollegen als Usurpator hin, meinte aber, es sei trotzdem möglich, mit Kiew zu verhandeln. Es gebe ja noch andere, legitime Vertreter. Karaganow, der immer wieder süffisant lächelte und gleichzeitig mit leicht giftigem Unterton an seiner Sichtweise festhielt, schien seine Rolle als – von sich selbst überzeugter – Advocatus Diaboli zu geniessen.
Putins Töchter nehmen teilDavor hatte Putin in Anwesenheit der beiden Ehrengäste, der Präsidenten Boliviens und Simbabwes Luis Arce und Emmerson Mnangagwa, eine längliche Rede zur wirtschaftlichen Entwicklung Russlands gehalten. Wie bereits vor einem Jahr war diese vor allem an das einheimische Publikum gerichtet. Erstaunlicherweise erwähnte Putin den Krieg nur indirekt im Zusammenhang mit den Sanktionen und mit Kriegsveteranen und beschränkte die aggressive Rhetorik gegenüber dem Westen auf ein Minimum.
Frei vom Krieg und vom neuen Zeitgeist war die diesjährige Ausgabe des Forums aber nicht. Vielmehr spiegelte sich im Programm, wie sehr das Militärische sowie die erzkonservativ verstandenen «traditionellen Werte» zur neuen Normalität von Wirtschaft und Gesellschaft gehören. Dass erstmals beide Töchter Putins wie auch Kinder mehrerer Funktionäre an Panels teilnahmen, interpretierten Beobachter als Zeichen dafür, dass verwandtschaftliche Bande im Machtgefüge an Bedeutung gewinnen.