Russland: Putin, Kadyrow und der Streit um den Onlinehändler ...
Putin, Kadyrow und ein Familienzwist: Um Russlands grössten Onlinehändler Wildberries ist ein bizarrer Streit entbrannt
Seit Wildberries und der viel kleinere russische Marktführer bei der Aussenwerbung ihr Zusammengehen angekündigt haben, steht die russische Geschäftswelt vor Rätseln. Ein Video und seine Folgen wirbeln neuen Staub auf.
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Das Video, das der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow diese Woche in seinem Telegram-Kanal veröffentlichte, hätte auch aus einer Fernsehserie stammen können. Kadyrow empfängt darin seinen angeblichen «alten Freund» Wladislaw Bakaltschuk und erfährt, dass diesen Ehe- und Geschäftssorgen plagen. «Meine Frau hat sich in unverständliche Gesellschaft begeben und die Familie verlassen», sagt Bakaltschuk. Die gemeinsame Firma stehe auf dem Spiel.
Kadyrow zeigt sich verständnisvoll. «Raider» hätten es offenbar auf das Unternehmen abgesehen und die Frau als Geisel genommen, «einige bekannte Kaukasier» stünden wohl dahinter. Er lasse nicht zu, dass Bakaltschuks Familie («ihr habt doch sieben Kinder») und Firma zerstört würden. Wenig später teilte Kadyrows rechte Hand, der Duma-Abgeordnete Adam Delimchanow, mit, er werde sich darum kümmern.
Verschwiegenes UnternehmenDas Video und die Botschaft dahinter haben interessierte Beobachter sofort elektrisiert. Die Frau, um die es in dem Dialog geht, ist Tatjana Bakaltschuk, Russlands reichste Unternehmerin. Ihre Firma Wildberries ist der grösste russische Onlinehändler, der fünf Prozent des gesamten Umsatzes im russischen Detailhandel generiert.
Mit Wildberries hat zwar praktisch jeder Haushalt in Russland gelegentlich zu tun, weil dort buchstäblich alles angeboten wird, auch Waren, die wegen des Rückzugs westlicher Marken aus Russland nur noch schwer erhältlich sind. Das von der einstigen Englischlehrerin Tatjana Kim und dem Computerfachmann Wladislaw Bakaltschuk 2004 gegründete Familienunternehmen blieb aber für Aussenstehende ein Buch mit sieben Siegeln. Lange Zeit hatten fast nur die Bakaltschuks und langjährige Vertraute das Sagen.
Am Video erschien vieles bizarr: wie Wladislaw Bakaltschuk mit seinen familiären und geschäftlichen Problemen die Öffentlichkeit sucht und weshalb Kadyrow, der brutale tschetschenische Autokrat, von dessen Beziehung zu den Bakaltschuks bis anhin niemand gewusst hatte, in einem Familien- und Geschäftsstreit eine Rolle spielen soll.
Rätsel um eine angekündigte FusionFür Aufsehen sorgte die Neuigkeit aber auch deshalb, weil es tatsächlich rätselhafte Vorkommnisse rund um Wildberries gibt. Aus dem Nichts heraus hatte das Unternehmen Mitte Juni in einer knappen Mitteilung abends angekündigt, mit Russ Outdoor zusammenzugehen, Russlands grösstem Anbieter von Aussenwerbung. Die Nachricht hatte Überraschung, ja Schock in der Geschäftswelt ausgelöst. Niemand verstand, was dieser Zusammenschluss solle und was damit überhaupt gemeint sei. Welche Synergien sollten zwischen einem Onlinehändler und einem Spezialisten für Plakatwerbung bestehen?
Auch wiesen die Analytiker sogleich auf den Grössenunterschied hin: Wildberries setzte 2023 2,5 Billionen Rubel (25 Milliarden Franken) um und erzielte einen Reingewinn von 18,9 Milliarden Rubel (193 Milliarden Franken). Der Reingewinn von Russ Outdoor dagegen betrug 4,9 Milliarden Rubel (50 Millionen Franken). Das Unternehmen, das auf eine einst von Rupert Murdoch gegründete Firma zurückgeht, hat eine wechselhafte und intransparente Besitzerstruktur.
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Neben den Gebrüdern Lewan und Robert Mirsojan, die bei Russ Outdoor das Sagen haben sollen, scheint zumindest zeitweise auch der frühere Vizeministerpräsident und heutige Chef der staatlichen Entwicklungsbank VEB, Igor Schuwalow, an der Firma beteiligt gewesen zu sein.
Hartnäckig hält sich auch das Gerücht, der einflussreiche Geschäftsmann und Senator aus Dagestan Suleiman Kerimow stehe eigentlich hinter den Mirsojans. Nach und nach brachten Recherchen russischer Wirtschaftsmedien etwas Licht ins Dunkel – aber die Verwunderung über die Absichten hinter dem Vorgehen wurde dadurch nicht kleiner: Niemand Geringerer als der russische Präsident Wladimir Putin soll nämlich dem Vorhaben persönlich zugestimmt haben.
Pläne wie aus Putins MärchenDie russische Ausgabe von «Forbes» bekam einen Brief in die Hände, den Tatjana Bakaltschuk und Robert Mirsojan an Putin geschickt hatten. Darin preisen die beiden ihr Fusionsprojekt in den rosigsten Farben an. Das zusammengelegte Unternehmen werde in Asien, Afrika, dem Nahen Osten, dem postsowjetischen Raum, in Indien und China Milliarden neuer Konsumenten ansprechen und im globalen Markt mit Amazon, Alphabet (Google), Alibaba und Softbank auf einer Stufe stehen.
Ferner werde ein eigenständiges globales Bezahlsystem in Rubeln, unter Umgehung von Swift, geschaffen. Russlands Bruttoinlandprodukt könne allein wegen dieser Fusion um 1,5 Prozent wachsen, weil neue Märkte erschlossen würden. Schliesslich trage das neue Unternehmen auch wesentlich zur Verbreitung von Russlands «traditionellen Werten» und einem positiven Bild des Landes bei.
Das alles muss den Kremlherrn überzeugt haben, liest es sich doch so, als wäre es direkt aus seinen Reden abgeschrieben. Er beauftragte den stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung und obersten Wirtschaftsberater im Kreml, Maxim Oreschkin, das Vorhaben zu begleiten. Bakaltschuk dementierte zwar die Existenz eines solchen Briefs, aber der Kreml bestätigte die Vorgänge gegenüber «Forbes». Putins direkte Mitwirkung wirft nicht nur ein Schlaglicht darauf, wie unmittelbar der Präsident an Entscheidungen von Privatunternehmen beteiligt ist. Sie birgt für die Unternehmen auch die Gefahr, auf eine westliche Sanktionsliste zu geraten.
Ehekonflikt und Streit um FirmenzukunftDie Vorstellungen Bakaltschuks und Mirsojans im Brief an Putin klingen eher wie aus dem russischen Propagandamärchen; das Rätsel um die Hintergründe der Fusion lösten sie jedenfalls nicht. Diese ist in vollem Gang. Ein neues, gemeinsames Unternehmen wurde gegründet, in das beide Firmen ihre Gesellschaften einbringen. Wildberries ist daran mit 65 Prozent und Russ Outdoor mit 35 Prozent beteiligt; geführt wird es von Robert Mirsojan. Medien berichteten, dass seit Mitte Juni eine Reihe wichtiger Mitarbeiter Wildberries verlassen hätten – auch Wladislaw Bakaltschuk. Offenbar werden sie durch Leute ersetzt, die von Russ Outdoor kommen.
Hat sich Tatjana Bakaltschuk also doch in eine gefährliche Liaison begeben, wie ihr Ehemann und Kadyrow weismachen wollen? Kadyrows Video, dessen Inhalt Tatjana Bakaltschuk in einer eigenen Video-Botschaft sofort zurückwies, und dessen Folgen machten eines klar: Der Streit um die Zukunft von Wildberries ist auch mit einem Ehedrama verknüpft. Die Unternehmerin bestätigte, die Scheidung von Wladislaw Bakaltschuk sei angestossen. Dessen Einfluss auf Wildberries relativierte sie: 99 Prozent der Anteile an der Firma besitze sie, nur 1 Prozent er. Auch wies sie die Kritik am Zusammengehen mit Russ Outdoor zurück.
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Trotzdem bleiben dessen Hintergründe unklar und bieten Raum für viele Spekulationen. Eine mögliche Version lautet, Bakaltschuk habe sich in einen der Mirsojans verliebt und dazu bezirzen lassen, die zuvor wie einen Familienschatz gehütete Firma mit ihm und seinen Gefährten zu teilen.
Wenn, wie es heisst, die Initiative von Russ Outdoor ausging und nicht von Bakaltschuk, dann lässt das auch die Version zu, wonach die Hintermänner – möglicherweise Kerimow und andere mit dem Kreml verbundene Personen – das erfolgreiche Unternehmen Wildberries unter ihre Kontrolle bringen wollten. Möglicherweise half dabei auch die Hoffnung, sich so besser gegen Ungemach seitens der Justizbehörden zu wehren, die seit dem Brand in einem Wildberries-Lagerhaus in St. Petersburg Druck auf das Unternehmen ausüben.
Kadyrows seltsame PositionierungIn jedem Fall spielt aber der Konflikt zwischen den Eheleuten Bakaltschuk hinein. Nach Aussagen des Ehemanns gibt es keinen Ehevertrag zwischen den beiden. Bei einer Scheidung fiele daher Wladislaw Bakaltschuk unabhängig von dessen im Handelsregister eingetragenen Aktienanteilen die Hälfte am gemeinsamen Besitz, also auch an Wildberries, zu.
Der Zusammenschluss mit Russ Outdoor macht die Sache kompliziert und zu einem Streitfall fürs Handelsgericht – oder eben, wie in den neunziger Jahren, für schillernde Figuren wie Ramsan Kadyrow. Dessen Motivation bleibt jedoch undurchsichtig. Sich als Schlichter und als Retter des heilen Familienlebens aufzuspielen, ist zwar ganz im Sinne des Gewaltherrschers. Auch ist er auf Kerimow schlecht zu sprechen. Aber wenn er gegen Tatjana Bakaltschuk und deren Pläne Position bezieht, stellt er sich gegen seinen grössten Förderer, Präsident Putin.
Wie auch immer das persönliche und geschäftliche Drama endet: Auf dem Spiel steht nicht nur das Wohlbefinden aller Beteiligten, sondern auch das zwar mit Problemen behaftete, aber prosperierende Privatunternehmen Wildberries. Der Fall führt vor Augen, wie wenig im heutigen Russland Institutionen zählen, welche Macht bei dubiosen Lokalpotentaten liegt und wie direkt der Kreml in Zeiten des Krieges, der Sanktionen und der Umverteilung von Eigentum in die Unternehmenswelt eingreift, um dem Traum von einem russischen Amazon oder Alibaba zu folgen.