Russland: „Putin ist geradezu besessen von der russischen ...

2 Jun 2024
Putin

Russlands Bevölkerung schrumpft, der Ukraine-Krieg dramatisiert die Lage weiter. Während Putin Druck auf die Familien verübt, konkurrieren russische Unternehmen um Arbeitskräfte – und überbieten sich mit Löhnen.

Obwohl die Geburtenrate in Russland ungefähr dem EU-Durchschnitt entspricht, fordert der russische Präsident Wladimir Putin immer wieder, dass Frauen mehr Kinder bekommen sollen. Im März sagte er in seiner Rede zur Lage der Nation, dass die Geburtenrate dringend steigen müsse, denn „die Familie ist Grundlage für alles“. Schon vorher hatte Putin öffentlich Familien dazu aufgefordert, mindestens zwei, wenn möglich sogar drei Kinder zu bekommen. Wenn jede Familie nur ein Kind hätte, warnte Putin, würde das Land das Risiko eines massiven Bevölkerungsverlustes eingehen. „Und um zu expandieren und sich zu entwickeln, braucht man mindestens drei Kinder“, sagte der Kreml-Chef im Februar vor Arbeitern in einer Panzerfabrik in der Ural-Region.

Russland kämpfte schon vor dem Überfall auf die Ukraine mit der demografischen Lage im Land. Die ähnlich niedrige Geburtenrate wie in westlichen Ländern trifft auf eine viel geringere Lebenserwartung. Durchschnittlich gebärt eine Frau in Russland unter zwei Kinder, die Lebenserwartung liegt bei 73,2 Jahre und damit unter dem OECD-Durchschnitt von 81 Jahren.

Der unabhängige russische Demograf Alexei Rakscha sagt gegenüber der WirtschaftsWoche, dass Putin geradezu besessen von der russischen Demografie sei. „Das ist typisch für autoritäre Machthaber, weil sie sicherstellen wollen, dass mehr Menschen im Land bleiben oder das Land größer wird.“

Der Krieg gegen die Ukraine verschärf Putins Probleme: Hunderttausende Männer werden an die Front geschickt, weitere hunderttausende haben das Land verlassen. Seit 2022 sind etwa 750.000 bis 800.000 Menschen geflohen, weil sie Angst vor dem Militärdienst hatten, aus Protest oder aus wirtschaftlichen Gründen. Zwei Jahre später ist allerdings die Hälfte dieser Menschen wieder zurückgekehrt. Das hat verschiedene Gründe: „Viele konnten im Ausland keine angemessene Arbeit finden, waren in den Ländern, in die sie eingewandert sind, nicht willkommen oder es gelang ihnen schlichtweg nicht, sich dort ein neues Leben aufzubauen“, sagt Rakscha.

Auf russischer Seite gibt es bisher kaum Einschränkungen für die Ausreise. Lediglich Personen, die für staatliche Institutionen arbeiten, könnten es schwer haben. Doch viele Russinnen und Russen können sich eine Ausreise nicht leisten. „Nur knapp über ein Viertel der russischen Bevölkerung ist überhaupt in der Lage, ins Ausland zu gehen, der Rest besitzt nicht einmal einen Reisepass“, erklärt der Demograf.

Durch Zuwanderung kann dieses Problem nicht mehr aufgefangen werden – denn für Migranten hat Russland seit dem Überfall an Attraktivität verloren. Der abgewertete Rubel und die hohe Inflation schrecken Zuwanderer aus zentralasiatischen Ländern wie Usbekistan oder Tadschikistan, aber auch Nepal und Kenia ab. Nach dem Attentat auf die Crocus City Hall bei Moskau im März häufen sich außerdem Berichte, dass Migranten ohne gültige Papiere massenhaft aus Russland abgeschoben werden.

Der russische Fachkräftemangel

Die dadurch immer kleiner werdende Bevölkerung führt zu einem massiven Arbeitskräftemangel in Russland. 2023 fehlten laut der russischen Zeitung „Izwestija“ rund 4,8 Millionen Fachkräfte. Die russische Zentralbank sprach kürzlich in einem Bericht sogar von einem „Rekord-Personalmangel seit Beginn des 21. Jahrhunderts“ für das erste Quartal 2024.

Am härtesten trifft der Personalmangel die produzierenden Unternehmen. Aufgrund des Mangels sind viele Unternehmen gezwungen, entweder ihr Produktionsvolumen zu begrenzen oder ihre Mitarbeitenden mit zusätzlicher Bezahlung für Überstunden zu motivieren, heißt es in dem Bericht. Außerdem erhöhen die Unternehmen die Gehälter, versuchen ältere Fachkräfte länger in ihren Jobs zu halten, oder stellen ungeschultes Personal ein, wie zum Beispiel Studierende, Rentner oder eben Migrantinnen und Migranten.

Vladimir Gimpelson, Ökonom an der University of Wisconsin-Madison, sieht den Arbeitskräftemangel als eines der Hauptprobleme der russischen Wirtschaft. „Der Arbeitskräftemangel hat eine rasante Nachfrage und einen Lohnanstieg ausgelöst, der zur Überhitzung der Wirtschaft und zur Inflation beiträgt.“

Die Arbeitslosenrate in Russland liegt aktuell bei unter drei Prozent, damit gibt es kaum Reserven, auf die zurückgegriffen werden kann. „Die Unternehmen nehmen sich die Mitarbeitenden untereinander weg“, sagt Gimpelson. Er spricht von einer Art Kettenreaktion: Wenn eine Stelle neu besetzt wird, wird automatisch eine neue im anderen Unternehmen frei. Außerdem treibt diese Kettenreaktion die Löhne immer weiter in die Höhe. „Viele freie Stellen stimulieren den Lohnpreis auf dem Markt, aber dieser Lohnanstieg verursacht zusätzliche Kosten für die Unternehmen“.

Wenn das Geld für Löhne und Gehälter ausgeht, wird die Abwerbung von Arbeitskräften aber schwieriger, „und das Geld wird früher oder später ausgehen“, sagt der Experte. In dieser Situation bleibt nur die „gewaltsame Verdichtung“ des zweiten Segments des Arbeitsmarktes, das außerhalb großer und mittlerer Unternehmen liegt: die Selbstständigen. So gäbe es bereits Diskussionen über die Zahl der Selbstständigen, wie sie arbeiten und wie viele Steuern sie zahlen. „Es wird nicht lange dauern, bis darüber gesprochen wird, wie man gegen diese Selbstständigen vorgehen kann, damit sie in Fabriken und Betrieben arbeiten.“

Der industriell-militärische Komplex baut noch mehr Druck auf die Situation aus und konkurriert direkt um die Arbeitskräfte mit – mithilfe sehr hoher Löhne. So bekommen Männer bei ihrer Einberufung ein monatliches Gehalt von mehr als 200.000 Rubel, umgerechnet um die 2060 Euro, versprochen. Das ist mindestens dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt. Zusätzlich gibt es eine Einstellungsprämie von 195.000 Rubel, umgerechnet 1970 Euro, und andere Vorteile wie einen früheren Renteneintritt oder den Zugang zu zinsverbilligten Darlehen für den Wohnungskauf.

Diese Löhne und Vorteile sind für viele Unternehmen aus anderen Sektoren nicht konkurrenzfähig. Selbst Branchen, die sonst als besonders lukrativ und gut bezahlt galten, wie die Öl- und Gasindustrie, können nicht mithalten. Diese zahlte nach Bloomberg-Berechnungen seit 2017 Löhne, die mindestens zwei Drittel über dem nationalen Durchschnittslohn lagen. Im Januar und Februar dieses Jahres bekamen die Beschäftigten im russischen Öl- und Gassektor jedoch nur noch rund 125.200 Rubel (1270 Euro), also rund 75.000 Rubel weniger als beim Militärdienst.

Wo führt das hin? „Ich habe keine Ahnung“, sagt Gimpelson, „aber ich habe sehr katastrophale Erwartungen“.

Lesen Sie auch: Putins Spiel mit der Angst

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?

Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten