Auch bei den Paralympics verliert Deutschland den Anschluss

Paris/Essen. Die Paralympics in Paris enden – und die deutschen Sportler und Funktionäre kämpfen mit ähnlichen Problemen wie bei Olympia.

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Foto Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Markus Rehm hat dem Druck standgehalten, den seine prominente Rolle mit sich brachte. Der deutsche Prothesen-Weitspringer war in der Eröffnungsfeier mitten in Paris auf dem Place de la Concorde prominent integriert gewesen, er hatte kurz vor der Entzündung des Feuers die Fackel ein Stück weit tragen dürfen und im größtmöglichen Rampenlicht gestanden. „So etwas setzt einen dann ja doch etwas unter Druck“, sagte seine Trainerin Steffi Nerius nun nach dem Ende der Spiele am Sonntag, die eine ebenbürtige Fortführung der zuvor so begeisternden Olympischen Spiele waren – und die der deutschen Delegation ähnliche Debatten einbrachten.

Denn Rehm war zwar trotz des Drucks im Wettkampf souverän geblieben, er ist ein schillernder Weltstar – in einem deutschen Team, das wie das olympische um Anschluss kämpft an eine immer besser und breiter werdende Weltspitze. Der 36 Jahre alte Leverkusener wurde den Erwartungen gerecht und zum vierten Mal in Serie Paralympicssieger. Es war knapper als sonst, die internationale Konkurrenz kommt auch dem Weltrekordler aus Leverkusen immer näher. Andere bekamen den weltweiten Leistungsschub noch deutlicher zu spüren. So mussten Gold-Kandidaten wie die Leichtathleten Johannes Floors, Leon Schäfer und Felix Streng, der Triathlet Martin Schulz und Tischtennis-Titelverteidiger Valentin Baus anderen den Vortritt aufs oberste Treppchen lassen.

Markus Rehm erfüllte die Erwartungen und holte Gold im Weitsprung. © dpa | Julian Stratenschulte

Rehm feierte seinen Erfolg dann auch ausgelassen, am Morgen danach musste seine Siegerehrung verschoben werden, weil er zu spät kam. Wahrscheinlich hatte er auch ein bisschen den Para-Sport insgesamt gefeiert, in dem er seit Jahren den Vorkämpfer gibt für mehr Sichtbarkeit und mehr Anerkennung. Er wollte nie Mitleid, sondern für herausragende Leistungen anerkannt werden. Ihm selbst gelingt das schon länger. Und nun, das hat Paris gezeigt, schaffen das immer mehr Athletinnen und Athleten aus aller Welt. „Da muss man sich gut und schnell mitentwickeln, sonst wird man abgehängt“, prophezeite er schon vor dem Start der Spiele.

Deutsche Parasportler fallen international zurück

Er behielt recht. Und nun wird im paralympischen Sport genauso wie im olympischen diskutiert, wie man in Deutschland den Anschluss halten kann. Denn die weltweit starken Leistungen bringen mit sich, dass es für jede einzelne Nation schwieriger wird, sich in den Top-Ten zu behaupten. Deutschland ist das wie schon vor drei Jahren in Tokio nicht gelungen. Einzelne Stars wie Rehm und die Schwimmer Elena Semechin, Taliso Engel und Josia Topf oder Sportarten wie der Rollstuhlbasketball der Männer mit der überraschenden Bronze-Medaille konnten sich in Szene setzen. Aber insgesamt verliert das Bild des deutschen Spitzensports in der Welt an Strahlkraft.

Paralympics - Figure 2
Foto Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Platz elf im Medaillenspiegel (zehn Mal Gold, 14 Mal Silber und 25 Mal Bronze) ist für Team D Paralympics besser als Platz zwölf in Tokio vor drei Jahren, aber es ist kein Platz in den Top-Ten, wo Deutschland sich zuletzt in Rio 2016 (Platz sechs) einordnete. In den nach Goldmedaillen sortierten Top-Ten von Paris haben sich hinter dem Riesenreich China, das mit weitem Abstand (219 Medaillen) an der Spitze rangiert, auch europäische Nationen wie Großbritannien (Platz zwei/124 Medaillen), die Niederlande (4/56), Italien (6/71/) oder Frankreich (8/75) eingereiht.

Trainerin Steffi Nerius sieht den deutschen Datenschutz als Problem

„Das Geheimrezept der Holländer kenne ich nicht“, sagte Rehms Trainerin Steffi Nerius: „Aber deren Erfolge sind faszinierend, die sind gefühlt so groß wie NRW, da frage ich mich schon, was wir falsch machen.“ Ein großes Problem sieht die ehemalige Speerwurf-Weltmeisterin in der Talentfindung. „Es gibt genug Behinderte in Deutschland, wir müssen aber an sie herankommen“, sagt die 52-Jährige: „Ich fürchte, dass wir uns mit unserem Datenschutz selbst schachmatt setzen.“ Schreibe man zum Beispiel Schulen an und frage nach Kindern mit Einschränkungen, um ihnen den Einstieg in den Sport zu ermöglichen, werde man aus Datenschutz-Gründen abgewiesen.

Der US-Amerikaner Hunter Woodhall (rechts) gewinnt über 400 Meter, Johannes Floors (links) kann nicht ganz mithalten. © AFP | JOEL MARKLUND

Matthias Berg, als ehemaliger Para-Leichtathlet und Ski-Alpin-Fahrer mit elf Goldmedaillen bei Paralympischen Spielen dekoriert und Paralympics-Experte des ZDF, sprach von einer „Philosophiefrage“. Im deutschen Sport sei die Maxime: „Wir streuen ein bisschen Gießkanne, damit niemand verloren geht und jeder die Chance bekommt, Breiten- oder auch Leistungssport zu machen.“ Das unterscheide das Land von erfolgreicheren Nationen, in denen vor allem paralympische Sportarten gefördert würden und zudem jene, die schon erfolgreich sind und in denen es die meisten Medaillen zu gewinnen gibt.

Der Verband muss Trainern kündigen

Schwimm-Bundestrainerin Ute Schinkitz ärgerte sich trotz der Erfolge in ihrer Sportart vor allem über die Bezahlung von Trainern im deutschen Sport. Karl Quade, der Chef de Mission des deutschen Teams, hatte bekannt gegeben, dass der Deutsche Behindertensportverband (DBS) wegen der bevorstehenden Kürzung der Bundesmittel für 2025 bereits zehn der 50 von ihm beschäftigten Trainer kündigen musste.

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Die Entwicklung in anderen Nationen sei rasant, in einigen vielleicht sogar mit „einem Geschmäckle“ behaftet, wie Steffi Nerius erklärt: „Bei ein paar Ländern mache ich mir schon Gedanken, ob da alles so fair und sauber abläuft.“ Der von ihr betreute Markus Rehm ist ein Ausnahmeathlet, der zeigt, wie es gehen kann: mit enormem Aufwand, Professionalität und großer Leidenschaft. Er trainiere mindestens so viel wie olympische Weitspringer, sagt Nerius: „Aber wenn man in die Weltspitze will, muss das sein.“ So weit ist der paralympische Sport inzwischen gekommen.

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