Pyrothechnik und Katholizismus: Freiburg feiert den Nikolaus und ...
Pyrotechnik, Lebkuchen, Katholizismus: Jeden Dezember inszeniert Freiburg ein grosses Spektakel und feiert den Nikolaus wie einen Pop-Star
Am Fest des heiligen Nikolaus in Freiburg geht es um Kindheitserinnerungen, Gemeinschaft, Kulturerbe. Aber auch um die Frage, wie viel Veränderung die Tradition verträgt und wie viel sie nötig hat.
Jean-Christophe Bott / Keystone
30 000 Personen stehen dicht gedrängt vor der Freiburger Kathedrale. Fast so viele, wie die Stadt Einwohner hat. Sie schauen hoch auf den Balkon der Kirche und warten auf den heiligen Nikolaus, den Schutzheiligen der Kinder, den Patron der Stadt Freiburg. Dann tritt Nikolaus hinaus und initiiert das Ritual. Er hebt seine Hand und ruft: «Mes chers enfaaaaaaants» – meine lieben Kinder. Er tut es so, wie ein Stadionsprecher den Namen eines Torschützen ansagt. Die Menge johlt. Am lautesten die Erwachsenen.
Die Kinder glauben, dass der echte heilige Nikolaus spricht, dass er jedes Jahr auf wundersame Weise vom Himmel herabsteigt und seine Stadt besucht. Die Erwachsenen wissen, dass unter dem weissen Bart, der Schminke und dem Bischofshut ein Schüler des Kollegiums St. Michael steckt. Aber in diesem Moment – so scheint es – vergessen sie es.
Nach einigen Minuten beendet der heilige Nikolaus seine Rede, die ein satirischer Jahresrückblick ist. Er hebt die Hand und segnet die Menge. Hinter ihm flammen Pyros auf. In Freiburg wird der Nikolaus gefeiert wie ein Pop-Star.
Jeden ersten Samstag im Dezember spielen sich diese Szenen in Freiburg ab. So auch an diesem Wochenende. Die Hotels und Restaurants sind ausgebucht. Das Fest bringt der Stadt laut dem Tourismusbüro an einem einzigen Tag eine Wertschöpfung von 3,5 Millionen Franken. Das ist der ökonomische Aspekt.
Der emotionale ist komplexer: Für die Freiburgerinnen und Freiburger ist dieses Fest der wichtigste Tag im Jahr. Wer hier aufgewachsen, aber weggezogen ist, kehrt zurück. Alle sitzen zusammen, trinken Glühwein, essen Lebkuchen. Bekannte, die sich sonst nie sehen, stossen an und singen. Freiburg wird zu einer Kulisse und seine Bewohner zu Akteuren in einem Spektakel, das Tradition und Moderne vermengt.
Freiburg gegen BorkumIn ganz Europa haben sich rund um den Winterbeginn im Dezember Bräuche und Traditionen herausgebildet. Vergangene Woche löste eine Recherche über einen solchen Brauch einen Skandal aus. Es ging um das Klaasohm-Fest auf der deutschen Nordseeinsel Borkum.
Immer in der Nacht vom 5. Dezember verkleiden sich auf Borkum Männer mit Fellen und Hörnern. Dann schlagen sie Frauen auf der Strasse mit Kuhhörnern auf das Gesäss. Das Klaasohm-Fest hat eine Diskussion über den Umgang mit Traditionen ausgelöst. Über ihre Berechtigung und ihren Sinn. Auf Borkum haben sich Organisatoren dem öffentlichen Druck gebeugt. Sie werden den Brauch modernisieren und keine Frauen mehr schlagen, wie sie am Mittwoch mitteilten.
In Freiburg ist das Verhältnis zur Tradition ein anderes. Am Kollegium St. Michael, hoch oben auf einem Hügel über der Altstadt, entstand 1906 das Fest des heiligen Nikolaus in seiner heutigen Form.
Jedes Jahr zieht der heilige Nikolaus von dort durch die Gassen, verteilt unterwegs Lebkuchen und hält am Ende eine Rede. Bis heute organisieren Schüler und Lehrer das Fest. Doch anders als auf Borkum haben sie sich immer wieder gefragt: Wie viel Veränderung verträgt die Tradition? Und wie viel hat sie nötig?
Laurent Gilliéron / Keystone
Es ist ein Montagmorgen, wenige Tage vor dem grossen Nikolaus-Fest in Freiburg. Nicolas Renevey, 75-jährig, sitzt in einem kleinen Zimmer des Kollegiums St. Michael. 1959 trat er ins Gymnasium ein. Nach dem Studium kehrte er als Lehrer zurück. Er organisierte das Fest von 1990 bis 1995. Dann wurde er Rektor. 2011 ging er in Pension.
PD
Im Verlauf der vergangenen 100 Jahre hat sich am Fest des heiligen Nikolaus ein fixer Ablauf etabliert, wie Renevey sagt. Im September wählen die Schülerinnen und Schüler des Kollegiums aus dem Kreis der Maturanden einen Nikolaus. Dieser Schüler bereitet dann eine Rede vor, studiert sie mit einer Regisseurin ein. Der Name des Schülers ist bis zum Ende des Festes ein Schulgeheimnis.
Schon oft, sagt Renevey, habe die Öffentlichkeit versucht, Einblick in die Vorbereitungen zu erhalten. Die Lokalzeitung wollte wissen, wer der neue Nikolaus wird, was er bei seiner Rede sagen will. Und was er nicht sagen darf.
Die Rede enthält jedes Jahr einige satirische Kommentare über lokale und internationale Ereignisse. Einmal in den 1970er Jahren hielt ein jurassischer Schüler die Rede. Er nutzte die Gelegenheit und solidarisierte sich mit den Separatisten im Jura, die damals noch für einen eigenen Kanton kämpften.
Solche Vorfälle blieben die Ausnahme. Trotzdem wurden die Kontrollen danach etwas strenger, sagt Renevey. An der Schule heisst es: Die Themen der Rede dürften nicht zu delikat sein. Heute handeln die politischen Äusserungen der Nikoläuse vor allem vom Stau in der Stadt und vom Klimawandel. Einzelne Zuhörer beschwerten sich deshalb schon bei der Schule. Sie sagten, der Nikolaus solle Lebkuchen verteilen und nicht Politik machen. Er sei zu links geworden.
Für Renevey geht es an diesem Tag aber ohnehin mehr um die Figur, die der Schüler zum Leben erweckt. Wenn dieser Schüler am Tag des Festes in einem Zimmer des Kollegiums eingekleidet werde, vollziehe sich eine Verwandlung, sagt er. Der Schüler legt die Alba und den Umhang des heiligen Nikolaus an. Sodann den Bart und den Bischofshut, die Mitra. Der Schüler verschwindet und geht in der Rolle des heiligen Nikolaus auf. Bloss seine Augen sind noch zu sehen.
Man wolle den Schleier des Geheimnisvollen wahren, der über all dem liege, sagt der Schulleiter, und auch Renevey hält dieses Schweigegelübde hoch. Er sagt: «Das Fest ist so erfolgreich, weil es eine magische Komponente hat, die wir hüten und bewahren müssen.»
Schon als Renevey noch Rektor und Lehrer war, hat er sich stets als Wächter, als Bewahrer dieser Magie verstanden. In den 1990er Jahren war er verantwortlich für die Organisation. Einige Lehrer, Schülerinnen und Schüler fragten sich damals, ob es noch zeitgemäss sei, dass nur junge Männer den Nikolaus spielen dürfen. Renevey dachte nach und sagte dann: «Ich wäre einverstanden mit einer Frau als Nikolaus, wenn in Frankreich ein Mann Jeanne d’Arc verkörpert.»
Renevey hat sich durchgesetzt, der Nikolaus ist bis heute männlich. Doch das eigentliche Problem blieb: Sollte das Fest des heiligen Nikolaus nicht die ganze Schule und die gesamte Stadt, Männer und Frauen, einbinden?
Adrien Perritaz / Keystone
Im Kollegium St. Michael, genauer zwischen den Büros von Sébastien Uldry und Damien Vieli, gibt es eine Tür, die in diesen Tagen immer offen ist. Uldry und Vieli sind Teil der Schulleitung des Kollegiums St. Michael und haben viel zu besprechen. Sie sind gemeinsam mit einem Organisationskomitee von 40 Schülerinnen und Schülern für die Feierlichkeiten verantwortlich. Insgesamt engagiert sich beim Fest ein Drittel der Schülerschaft. Das sind 400 Helferinnen und Helfer.
PD
Uldry und Vieli sind in der Stadt Freiburg aufgewachsen und sagen, das Fest stehe für Kindheitserinnerungen. Es sei aber auch Teil des Kulturerbes der Stadt und der Unesco. Und dieses Kulturerbe lebe und werde immer grösser, sagt Vieli.
Vor drei Jahren haben 200 Schülerinnen und Schüler in einer Petition erneut verlangt, dass Frauen die Rolle des heiligen Nikolaus spielen dürfen. Gemeinsam mit der Initiantin suchte die Schulleitung einen Kompromiss. Sie haben nach einer Lösung gesucht, die beidem Rechnung trägt: der Tradition und der Gleichstellung. Sie fanden sie in der Freiburger Stadtgeschichte.
PD
Seit dem Mittelalter hat Freiburg drei Stadtpatrone: den heiligen Nikolaus, aber eben auch zwei Frauen, die heilige Barbara und die heilige Katharina. Die Organisatoren schufen also neue Rollen. Katharina und Barbara sollten Nikolaus am grossen Fest begleiten. Zudem seien sie die Hauptprotagonistinnen am Vorabend des grossen Umzuges, sagt Uldry. Dann finden Lesungen und Konzerte statt. Die Schülerinnen tragen literarische Texte vor, und das Orchester spielt einige Kompositionen: Die Künstlerinnen hinter diesen Werken sind allesamt Frauen. Das alles sei mit einigen hundert Zuschauerinnen und Zuschauern deutlich kleiner als das grosse Fest am Samstag, sagt Uldry. Doch es wachse.
Das trifft auch auf das Interesse aus der Wirtschaft zu. 2001 lancierten Geschäftsinhaber ausserhalb der Altstadt einen Vorstoss: Sie forderten, dass der Cortège mit dem Nikolaus ausserhalb der Altstadt beginne, so dass auch sie vom Publikum profitieren könnten. Doch der Vorstoss blieb chancenlos. Die Organisatoren stellten sich dagegen. Das Fest sollte dort bleiben, wo es entstanden war: in der Altstadt und am Kollegium St. Michael.
Denn Traditionen sind den Lehrern und Schülerinnen hier wichtig. Sie halten sie hoch und wenn nötig, begründen sie neue.