Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah: Unsicherheit gehört zur Taktik

3 Nov 2023
Nasrallah

Er ist wieder da. Nach fast vier Wochen des Schweigens und unzähligen Spekulationen über seinen Verbleib hat sich Hassan Nasrallah, Chef der libanesischen Hisbollah, am Freitag zum ersten Mal zum Krieg zwischen Israel und der Hamas geäußert. Selbst in den christlichen Stadtteilen von Beirut, weit weg von Hisbollah-nahen Vierteln, übertrugen Cafés die Rede live. Schülerinnen und Schüler bekamen früher Schulschluss. Denn Hassan Nasrallah ist bekannt für dramatische Inszenierungen. Im letzten Krieg zwischen der Hisbollah und Israel, 2006, ließ er etwa live während einer Rede ein Boot der israelischen Marine sprengen.

Entsprechend groß war die Sorge, Nasrallahs plötzliches Auftauchen könnte bedeuten, dass er einen Kriegseintritt der Hisbollah verkünden würde.

Die große Eskalation blieb jedoch aus. Im gewohnten ruhigen, gebetsartigen Sprachduktus und mit gewohnt aggressiver Wortwahl bedauerte Nasrallah die "Märtyrer," die auf der libanesischen und palästinensischen Seite bislang gefallen sind. Er drohte Israel und machte sich über die israelische Regierung lustig. Der Krieg, sagte Nasrallah, hätte den Israelis gezeigt, dass ihre Regierung "schwächer als ein Spinnennetz" sei. Zum Schluss der eineinhalbstündigen Rede kündigte er lediglich den weiteren Beschuss Israels im Grenzgebiet an.

Damit machte Nasrallah klar, dass die Hisbollah derzeit nicht auf einen regionalen Krieg aus ist. Statt der Verkündung eines Strategiewechsels versucht der Führer der schiitischen Miliz sein Image zu wahren und zu polieren.

Nasrallah erklärt, die Hisbollah befände sich bereits in einem richtigen Kampf

Durch seine Abwesenheit hat es zuletzt Kritik an Nasrallah gegeben. Während einige Experten sein Schweigen als Ausdruck der Machtlosigkeit interpretierten, kursierten im Internet Verschwörungstheorien, Nasrallah sei nicht mehr am Leben. Für den schiitischen Führer entscheidender dürfte aber die Kritik der Hamas gewesen sein, die Verbündeten würden nicht genug tun, um ihren den Kampf zu unterstützen.

Nicholas Blanford, Analyst beim Thinktank Atlantic Council in der libanesischen Hauptstadt Beirut, betont den reaktiven Charakter von Nasrallahs Rede. Auffällig sei gewesen, wie detailliert Nasrallah auf die Eskalationen der Hisbollah an der Grenze eingegangen sei. "Er hat erklärt, wie diese militärischen Aktivitäten dazu geführt haben, dass Israel Truppen vom Gazastreifen aus in den Norden verlegt hat und wie sehr das der Hamas geholfen hat", sagt Blanford.

Genauso können Nasrallahs Drohungen an die USA laut Blanford als Reaktion gewertet werden. "Nachdem die USA Flugzeugträger ins Mittelmeer verlegt haben, war klar, dass Nasrallah harte Worte an die Amerikaner richten würde", sagt Blanford. Und auch auf jene Anhänger der Hisbollah, die einen Kriegseintritt fordern, ging Nasrallah in seiner Rede ein. Man befände sich bereits in einem richtigen Kampf, sagte der schiitische Anführer. Diesen würde die Menschen in der Grenzregion bereits spüren.

Leidtragende sind die Libanesinnen und Libanesen

Vor allem zum Ende seiner Rede machte Nasrallah klar, dass das Ausmaß der Kämpfe an der libanesisch-israelischen Grenze vom weiteren Ausmaß der Angriffe Israels auf den Gazastreifen abhängt. Damit hält er die bisherige Strategie der Hisbollah, Drohungen auszusprechen und Unsicherheit zu verbreiten, weiter aufrecht. "Nasrallahs Abwesenheit ist Teil der psychologischen Kriegsführung geworden", sagt Blanford. Dafür spreche auch der Fakt, dass die Rede sechs Tage im Voraus angekündigt wurde, zusammen mit einem Videoclip, in dem eine verschwommene Silhouette von Nasrallah zu sehen war, die an einem Hisbollah-Logo vorbeiläuft. "Alle waren verwirrt und haben versucht herauszufinden, was damit gemeint ist", sagt Blanford.

Auch die libanesische Hisbollah-Expertin Hanin Ghaddar, die als Analystin für das Washington Institute arbeitet, sieht das Verbreiten von Unsicherheit als Taktik: "Die Rede ist Irans Weg zu sagen: Wir haben die Karte eines Kriegseintritts noch nicht gespielt, aber sie ist weiterhin da. Hört Nasrallah zu, seine Drohungen können wir jederzeit wahr werden lassen", sagt sie im Gespräch mit ZEIT ONLINE.

Leidtragende dieser Strategie sind die Libanesinnen und Libanesen. Denn Unsicherheiten haben auch Auswirkungen auf die ohnehin schon fragile Wirtschaft. Bereits jetzt haben einige Eventhallen und Restaurants, die vom Tourismus leben, temporär geschlossen oder Mitarbeitende entlassen. Nicht zu wissen, ob und an welchem Punkt das eigene Land in einen Krieg gezogen wird, ist zudem eine enorme mentale Belastung für ein kriegs- und krisentraumatisiertes Volk. Wie groß die Angst vor einer Kriegsbeteiligung der Hisbollah ist, zeigte sich bereits vor Nasrallahs Rede. In den Supermärkten deckten sich viele Menschen mit großen Mengen an Lebensmitteln und Wasser für den Fall der Fälle ein.

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