Meinung: Nagelsmann setzt bei EM auf Mentalität statt Talent

17 Mai 2024

Nagelsmann - Figure 1
Foto WESER-KURIER
Deutschlands EM-Kader Ein spannender Kurswechsel von Nagelsmann

Deutschlands EM-Kader zeugt von neuem Mut: Mentalität statt Talent, neue Rollen im Team und eine defensive Ausrichtung. Der Trainer hat wichtige Lehren gezogen und ist konsequent, meint Jean-Julien Beer.

Sein erstes großes Turnier: Bundestrainer Julian Nagelsmann führt Deutschland durch die Europameisterschaft. MICHAEL KAPPELER/dpa

Den entscheidenden Satz sagte Julian Nagelsmann eher beiläufig bei der Bekanntgabe des Kaders für die Fußball-Europameisterschaft: Es habe nicht mehr so weitergehen können, meinte der Bundestrainer, so wie bei den letzten Turnieren oder bei den Länderspielen zum Jahresende 2023. Zur Erinnerung: Bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 flog Deutschland in der Vorrunde raus, die Länderspiele im November 2023 gegen die Türkei und Österreich wurden klar verloren.

Deshalb räumte Nagelsmann vor der Heim-EM ordentlich auf: Er veränderte nicht nur den Kader, sondern auch die Rollenverteilung unter den Spielern sowie die Auswahlkriterien. Wo unter seinem Vorgänger Hansi Flick noch Talent oder internationale Erfahrung gefragt waren, da legt Nagelsmann nun mehr Wert auf Mentalität und Charakter. Es geht nicht mehr allein ums Können, sondern ums Wollen und Abliefern.

Man kann das an zwei Beispielen festmachen: So ist Leverkusens zweikampfstarker Abräumer Robert Andrich jetzt gesetzt, obwohl der 29-Jährige erst drei Länderspiele vorweisen kann. Nagelsmann spricht ihm „die nötige Drecksackmentalität“ zu, wie er das nennt. Andrich ist, ähnlich wie der Ex-Bremer Niclas Füllkrug, für Gegner und Mitspieler gleichermaßen unangenehm, weil er sich reinhängt und immer gewinnen will.

Das zweite Beispiel führt zu Antonio Rüdiger: In der entlarvenden Amazon-Doku über das Scheitern des DFB-Teams bei der WM in Katar sieht man, wie sich Rüdiger und Bayerns Joshua Kimmich darüber streiten, wer hier wem die Anweisungen gibt. Nagelsmann hat das bereits vor Turnierbeginn geklärt: Real-Madrid-Profi Rüdiger ist als Abwehrchef und Anführer gesetzt. Kimmich, der mit seinem Mittelfeldpartner Leon Goretzka für das Scheitern 2018 und 2022 stand, wurde nicht nur von der Hierarchiespitze vertrieben, sondern auch aus dem Mittelfeld; er verteidigt nun hinten rechts. Goretzka wurde gar nicht mehr berücksichtigt.

Nagelsmann - Figure 2
Foto WESER-KURIER

Neben Rüdiger und Andrich hat auch Innenverteidiger Jonathan Tah vom Meister Leverkusen die Gewissheit, gesetzt zu sein. Dahinter stecken zwei Überlegungen des Bundestrainers. Einerseits beeindruckte ihn die TV-Dokumentation des deutschen Basketball-Teams, das sensationell Weltmeister wurde. Hier schaute sich Nagelsmann ab, dass jeder Spieler im Vorfeld genau wusste, wie seine Rolle im Turnier aussieht. Dadurch werden interne Konkurrenzkämpfe vermieden und Führungsspieler gestärkt.

Zum anderen will Nagelsmann den deutschen Fußball nun von der Defensive her denken: Nach zu vielen Gegentoren im Jahr 2023 soll das Team von der Abwehr aus stabil aufgebaut werden. Torwart Manuel Neuer sowie das defensive Dreieck mit Rüdiger, Tah und Andrich ist gesetzt, auch Toni Kroos hat als Verbindungsspieler zur Offensive einen Platz sicher. Der Rest wird drumherum formiert.

Das ist auch der Grund, warum Routinier Mats Hummels fehlt: Er ist ein Alphatier, hätte in der Abwehr aber keinen Stammplatz. Mit Blick auf künftige Turniere macht es Sinn, jüngere Spieler heranzuführen. Die aber müssen sich über den Verein beweisen. Wie Nico Schlotterbeck: Nach schwachen Länderspielen unter Flick ließ Nagelsmann den Dortmunder stets links liegen. Erst nach starken Spielen in der Champions League ist er nun dabei – er muss sich in der Hierarchie aber wieder hinten anstellen.

Interessant ist, wer nicht dabei ist: Marvin Ducksch zum Beispiel, der in beiden November-Länderspielen zum Einsatz kam. Vor allem seine negative Körpersprache in den Monaten danach dürfte ihm geschadet haben, zudem schoss er zu wenige Tore. Das wird Ducksch zwar treffen, war aber selbst verschuldet. Mit dem gebürtigen Bremer Julian Brandt sowie Armel Bella-Kotchap fehlen zwei sehr talentierte Spieler, die in der Katar-Doku durch Zuspätkommen bei einer WM unangenehm auffielen.

Die kuriose Nominierung durch einzelne Bekanntgaben im Fernsehen, in sozialen Medien oder auf Konzerten kann man spannend oder nervig finden – immerhin aber hat die Nationalmannschaft dadurch aber das bekommen, was sie fast schon verspielt hatte: große Aufmerksamkeit. Nagelsmann sagt, er sehe den Fußball als Unterhaltungsbranche. Nach der Vorabinszenierung muss sein Kader nun im Turnier liefern.

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