Michel Barnier: Wie tickt der „französische Joe Biden“?

Michel Barnier

Routiniert, strukturiert, kompromissorientiert – Michel Barnier bringt aus Sicht von Präsident Emmanuel Macron Qualitäten mit, die es als Premierminister angesichts der schwierigen Mehrheitsverhältnisse im französischen Parlament braucht. Sie werden ihm auch von Weggefährten attestiert.

Der 73 Jahre alte Konservative ist ein monotoner Redner, gilt aber auch, oder gerade deshalb, als Kompromiss- und Verhandlungskünstler. Er sei „der einzige Franzose auf diesem Niveau, der uns Guten Tag sagt“, soll Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán mal über Barnier gesagt haben. Manche nennen ihn „den französischen Joe Biden“.

Seine Stärke, Akteure unterschiedlicher Couleur zusammenzubringen, unterscheidet den neuen Premier durchaus von Macron. Das sieht Barnier auch selbst so. „Sie können Frankreich nicht führen, ohne alle mitzunehmen“, warf er dem Präsidenten einst vor.

Bei der Ministerauswahl und bei Verhandlungen mit den Parlamentariern kann und muss er seinem in Brüssel erworbenen Ruf als „wandelnder Kompromiss“ nun gerecht werden. Selbst hat Barnier schon viele wichtige Posten bekleidet. Er war Umwelt-, Außen- und Landwirtschaftsminister in verschiedenen Regierungen, EU-Kommissar für Regionalpolitik und für Binnenmarkt sowie Brexit-Unterhändler.

Der Druck ist enorm

Barnier pflegt die deutsch-französische Freundschaft im Geiste von Adenauer und de Gaulle und versteht als Absolvent der Pariser ESCP Business School etwas von Wirtschaft. Letzteres ist auch deshalb von Bedeutung, da als erstes großes Gesetzesvorhaben der Haushalt für 2025 auf ihn wartet.

Barnier muss die Herkulesaufgabe meistern, die Staatsausgaben in den Griff zu bekommen, ohne bei Investitionen in Bildung, Infrastruktur, Gesundheit und den Wohnungsbau den Rotstift anzusetzen und ohne Unternehmen mit Steuererhöhungen zu vergraulen.

In der Vergangenheit sprach er sich für „einen strikten Sparkurs“ und „mutige Reformen“ aus. Der Druck ist enorm. Am Risikoaufschlag auf französische Staatsanleihen und an der Unterperformance des französischen Aktienmarkts hat sich mit Barniers Ernennung praktisch nichts verändert.

Kreditgeber, Ratingagenturen, die EU-Kommission und die europäischen Partner werden gespannt beobachten, welche Kunststücke Barnier in der Haushaltsdebatte gelingen, zumal das Wirtschaftswachstum schwach bleibt und die Steuerkasse alles andere als sprudelt.

„Ein echtes Handicap“

An schwierigen Dossiers mangelt es auch sonst nicht. Das gilt für Fragen der Immigration und inneren Sicherheit als auch für die Sozial- und Wirtschaftspolitik. 2021 sprach sich Barnier für ein drei- bis fünfjähriges „Moratorium“ bei der Einwanderung aus. Mit Blick auf den demographischen Wandel forderte er schon vor Macrons jüngster Rentenreform ein längeres Arbeiten.

Bei Letzterem ist nun Standfestigkeit gefragt. Sowohl der rechtspopulistische Rassemblement National als auch der Linksblock fordern eine Abkehr der Rente mit 64 und zurück zu einem regulären Eintrittsalter von 62 oder gar 60 Jahren. Rechnerisch kommen sie zusammen auf eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung.

Unternehmen fürchten, dass die Kosten einer sozialpolitischen Kehrtwende in Form höherer Beiträge oder Steuern bei ihnen abgeladen werden. Macrons Erbe als wirtschaftsfreundlicher Reformer steht damit auf dem Spiel.

„Frankreich ist bei niedrigen Löhnen wettbewerbsfähig, weil da gezielte Maßnahmen zur Abgabenbefreiung ergriffen wurden, aber das ändert sich von rund 2800 Euro an“, sagte Arbeitgeberchef Patrick Martin unlängst der F.A.Z. Wegen fehlender Beitragsbemessungsgrenzen wie in Deutschland seien die Nebenkosten für französische Unternehmen bei mittleren und höheren Löhnen „ein echtes Handicap“.

Für weniger staatliche Vorgaben

Ein sozialpolitisches Streitfeld neben der Rente: die geplante Reform der Arbeitslosenversicherung mit Kürzungen bei Höhe und Bezugsdauer. Die scheidende Regierung hatte sie im Wahlkampf als Signal der Kompromissbereitschaft nach links verzögert.

Gemessen an früheren Aussagen ist Barnier für eine Straffung staatlicher Unterstützung. Arbeit müsse besser wertgeschätzt und immer besser entlohnt werden als Untätigkeit, sagte er mal und forderte eine einheitliche Sozialhilfe und eine Reform der Arbeitslosenversicherung.

Umweltpolitisch steht Barnier für weniger staatliche Vorgaben. In einem Meinungsbeitrag äußerte er voriges Jahr Zweifel daran, ob die Folgen von EU-Vorgaben wie das Verbrenner-Aus im Jahr 2035, die Senkung der CO2-Emissionen von Lastkraftwagen um 90 Prozent bis 2040 und die Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030 „ausreichend analysiert, bewertet und abgefedert“ wurden.

So etwas hört man nicht zuletzt in den Reihen der protestfreudigen französischen Bauern gerne, nachdem seit der Parlamentsauflösung ein Gesetzesvorhaben auf Eis liegt, mit dem die Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft verbessert werden sollen.

Quasi keine Ausgabenspielräume

Spannend wird aus deutscher Sicht sein, welche Töne die neue Regierung in der Freihandelspolitik anstimmt. Parteiübergreifend und auch bei Präsident Macron stieß das Abkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten zuletzt auf starke Ablehnung, vor allem zum Schutz der heimischen Landwirte.

In der Energiepolitik vertrat Barnier bislang klassische französische Standpunkte: Erhalt und Ausbau der Kernkraft einerseits, Investitionen in Erneuerbare andererseits – allerdings mit Ausnahme von Windrädern. Diese würden „großen Schaden anrichten“, sagte Barnier vor drei Jahren.

Wichtige Variable für den neuen Premier in der Umwelt- und Energiepolitik ist die angespannte Haushaltslage. Da es quasi keine Ausgabenspielräume gibt, drohen Abstriche etwa bei Investitionen in neue Kraftwerke, Netze, Gebäudesanierung, E-Autos, Biodiversität oder die Anpassung an den Klimawandel.

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