Michel Barnier: Ein Premier von Le Pens Gnaden

11 Tage vor
Michel Barnier
Frankreichs neuer Premierminister Ein Premier von Le Pens Gnaden

Der ehemalige EU-Kommissar und Brexit-Unterhändler Michel Barnier soll Frankreich aus der politischen Krise führen. Die politische Linke sieht darin einen Verrat am Wähler.

Fast auf den Tag genau zwei Monate hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gebraucht, um einen möglichen Ausweg aus der von ihm selbst provozierten politischen Krise zu finden. Michel Barnier, 73 Jahre alt, mehrfacher Ex-Minister unter den bürgerlich-konservativen Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy sowie ehemaliger EU-Binnenmarktkommissar und Brexit-Unterhändler, soll neuer Regierungschef werden. Barnier ist Macrons letztes Aufgebot. Und er ist ein Premier von Marine Le Pens Gnaden. Sie und ihr rechtsnationales Rassemblement National (RN) hatten mit einen sofortigen Misstrauensvotum gegen ein ihr unliebsames Kabinett gedroht.

Die schwierige Suche war nötig geworden, nachdem Macron noch am Abend der Europa-Wahl am 9. Juni die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen angekündigt hatte. Die selbst für seine engen Wegbegleiter völlig überraschende und als Akt eines Hasardeurs kritisierte Entscheidung war Macrons Reaktion auf den haushohen Wahlsieg der französischen Rechtsnationalen von Marine Le Pen - und die krachende Niederlage für seine eigene Partei Renaissance. Beinahe hätte RN auch noch die Parlamentswahlen gewonnen, wenn sich nicht die seit Jahren zerstrittenen Parteien links der Mitte in einem Kraftakt zusammengeschlossen hätten. Die so entstandene Neue Volksfront (NFP) wurde stärkste Kraft in einem wie nie zuvor zersplitterten Abgeordnetenhaus und beanspruchte, wenngleich ohne absolute Mehrheit, die Regierungsbildung für sich. Das wollte Macron aber auch nicht. Auf gar keinen Fall.

Die NFP, daran ließen ihre Mitglieder keinen Zweifel, hätten zahlreiche von Macrons Reformen rückabgewickelt. Nicht nur, aber vor allem die im Land verhasste Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre. Zudem sollten die Saläre der Beamten um zehn Prozent angehoben und die Grundrente ebenfalls erhöht sowie die Anhebung des Mindestlohns um 200 Euro auf 1600 Euro monatlich beschlossen werden. Finanzieren wollte die NPF diese „ambitionierten Projekte“, wie das Bündnis sie selbst nannte „indem wir denen in die Tasche greifen, die die Mittel haben.“ Die Einkommensteuer wollte das Bündnis wieder progressiv und in 14 Stufen erheben, ebenso die auf alle Einkommensarten anfallende Sozialsteuer CSG. Das Programm sah außerdem die Wiedereinführung der Vermögenssteuer vor, ergänzt durch einen Klimabeitrag. Außerdem sollte die Deckelung der Steuerbelastung für sehr reiche Bürger aufgehoben und die so genannte Exit Tax für Franzosen mit Steuersitz im Ausland wieder eingeführt werden.

Die olympischen Spiele in Paris gewährten dem Staatschef eine Atempause, eine „olympische Waffenruhe“, wie sie ganz offiziell genannt wurde. Aber nun wurde es höchste Zeit. Fast drei Viertel der Franzosen gaben in Umfragen an, sich angesichts der politischen Krise Sorgen um die Folgen für die Wirtschaft zu machen. Genauso so viele beantworteten die Frage nach ihrem Vertrauen in die politischen Institutionen negativ. Für kommenden Samstag sind im ganzen Land weit über hundert Protestveranstaltungen gegen Macron geplant. Nicht nur nach Überzeugung weit links stehender Kritiker hat er seit Amt missbraucht und der Demokratie Gewalt angetan mit der Weigerung, der Linken den Regierungsauftrag zu geben und statt dessen die zurückgetretene Regierung geschäftsführend im Amt zu halten. Jedes andere Land mit weniger Ansehen in der Welt, so argumentieren sie, müsste sich längst unangenehme Fragen nach der demokratischen Ordnung stellen lassen.

Barnier ist der letzte von einem halben Dutzend Kandidaten, deren Namen allein in den vergangenen Tagen so schnell aufploppten, wie sie auch wieder in der Versenkung verschwanden. Im Elysée-Präsidentenpalast gaben sich seit Beginn der vergangenen Woche die Delegationen aller im Parlament vertretenen Parteien die Klinke in die Hand, um Macron ihre Forderungen zu präsentieren. Keine der politischen Kräfte rechts, in der Mitte oder links verfügte zwar über eine Mehrheit, aber über genügend Drohpotenzial für ein Misstrauensvotum, um eine Regierung gleich wieder zu stürzen.

Das galt vor allem für RN und ihre Fraktionsvorsitzende Le Pen. Wie die bürgerlich-konservativen Republikaner lehnte sie eine Regierung unter Beteiligung der weit links stehenden Gruppe des „Unbeugsamen Frankreich“ im Bündnis der Neuen Volksfront ab. Nachdem diese aber das Zugeständnis machten, keinerlei Ministeramt zu beanspruchen, legte Le Pen die Latte höher. Sie werde keinerlei links geführte Regierung akzeptieren. Noch am gestrigen Mittwoch, als eine Ernennung des konservativen Politikers Xavier Bertrand unmittelbar bevor zu stehen schien, intervenierte sie ebenfalls: Bertrand ist Präsident der Region Hauts-de-France, Le Pens Wahlheimat. Die beiden hatten sich in der Vergangenheit scharfe Wahlkämpfe geliefert. Auf die Haltung der 143 RN-Abgeordneten in der Assemblée Nationale kommt es an, denn die Linksparteien wollen wiederum einen rechten Premier zu Fall bringen.

„Emmanuel Macron tritt das Votum der Franzosen mit Füßen,“ kritisierte der Vorsitzende der Sozialisten, Olivier Faure. „Den Franzosen wurde die Wahl gestohlen,“ tönte der Anführer des „Unbeugsamen Frankreich“, Jean-Luc Mélenchon und rief für Samstag zu noch entschlosseneren Protesten auf.

Dass Le Pen sich mit Barnier arrangieren kann und eine Duldung in Aussicht gestellt hat, überrascht nicht. Als der Politiker 2022 bei der Vorwahl seiner Republikaner für die Kandidatur um das Präsidentenamt antrat, buhlte er mit EU-kritischen Tönen um Sympathien im rechtsbürgerlichen Lager. Zudem sprach er sich für ein Migrationsmoratorium aus und dafür, Frankreichs Grenzen für eine gewisse Zeit zu schließen. Dass er als reifer Krisenmanager gut in den Elysée-Palast passen würde, fand er damals. Er ist auch ein Anhänger, das Budget für Verteidigung und militärische Forschung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Seine aus den Brexit-Verhandlungen kaum zu erschütternde Gelassenheit könnte ihm womöglich dabei helfen, ein politisch diverses Kabinett zusammenzuhalten. Auf jeden Fall sieht er sich als Gegenpol zum sprunghaften Präsidenten Macron.

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