Die Lage am Morgen: Söders unmoralisches Angebot

21 Okt 2023
Hilflose Lehrer

Morgen Nachmittag soll in Berlin eine große Demo stattfinden. Ein breites, überparteiliches, interreligiöses Bündnis ruft zu einer Kundgebung gegen Antisemitismus und für Solidarität mit Israel auf. 10.000 Menschen werden erwartet, es wäre schön, wenn es noch viel, viel mehr werden.

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Solidaritätskundgebung für Israel in Bonn (am 15. Oktober): Am Sonntag wollen in Berlin 10.000 Menschen gegen Antisemitismus demonstrieren

Foto: IMAGO/Meike Böschemeyer / IMAGO/epd

Denn bisher haben andere das Bild auf deutschen Straßen dominiert. Auch für diesen Samstag sind wieder zahlreiche, sogenannte propalästinensische Demonstrationen geplant. Die Nachrichtenagentur dpa listet unter anderem Aufzüge in Düsseldorf, Köln, Hannover, München und Stuttgart auf. In Berlin wurden nach den jüngsten Gewaltausbrüchen bei Protesten zwei Veranstaltungen am Brandenburger Tor und am Alexanderplatz verboten. Zu hoffen ist, dass es diesmal überall friedlich bleibt.

Israelhass und Antisemitismus sind seit dem Überfall der Hamas auf Israel vor zwei Wochen präsent wie nie, Jüdinnen und Juden fühlen sich hierzulande nicht mehr sicher. Die Frage drängt sich auf: Hat die Politik, haben wir, die Gesellschaft, ein Problem unterschätzt?

Ein SPIEGEL-Team hat sich auf Spurensuche begeben, vor allem an Schulen, und hat dort hilf- und ratlose Lehrerinnen und Lehrer getroffen. Versuche, mit Migrantenkindern den Nahostkonflikt sachlich zu besprechen oder die besondere deutsche Verantwortung herauszuarbeiten, scheitern meist – an vorgeprägten Weltbildern, an Emotionen, an Desinteresse. »Als eine Schülerin feststellt, sie wisse eigentlich zu wenig über den Konflikt, um sich klar positionieren zu können, wirkt das schon wie ein Erfolg«, schreiben die Kolleginnen und Kollegen.

Aber sie haben auch Mut machende Beispiele gefunden, den Imam Ender Cetin und den Rabbi Elias Dray etwa. Im Tandem gehen sie in Berlin seit Jahren in Schulen, um Vorurteile abzubauen und Fragen zu beantworten. Seit dem 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Überfalls, haben sich ihre Einsätze vervielfacht. Dabei berichtet der Imam den Schülerinnen und Schülern auch, dass er für beides betet: dass die Geiseln schnell freigelassen werden und keine Bombardierungen mehr stattfinden.

In einem komplizierten Konflikt ist das die erste, vielleicht wichtigste Erkenntnis: Uneingeschränkte Empathie für die unschuldigen Opfer dieses Krieges, auf beiden Seiten, ist möglich – und sollte selbstverständlich sein.

Judenhass unter Muslimen und Migranten: Hat die deutsche Politik diesen Antisemitismus jahrelang unterschätzt? 

Auch wichtig heute:

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In Kairo findet heute ein sogenannter Friedensgipfel für den Nahen Osten statt. Auf Einladung Ägyptens kommen unter anderem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas, der jordanische König Abdullah II., Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman, EU-Ratspräsident Charles Michel zusammen. Für Deutschland ist Außenministerin Annalena Baerbock vor Ort. Es gehe bei dem Treffen um die Frage, »wie man einen Flächenbrand verhindern« und eine humanitäre Katastrophe abwenden könne, so Baerbock. Israel ist nicht dabei. Ein Sprecher des Außenministeriums sagte, man sei nicht eingeladen und werde auch nicht teilnehmen.

Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in Nahost finden Sie hier:

Alle erwarten die Eskalation des Krieges. Doch wie geht es danach weiter? Zwei Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas droht eine Ausweitung des Krieges. Was Benjamin Netanyahu jetzt befiehlt, entscheidet über die Zukunft der Menschen in Israel, Gaza – und des gesamten Nahen Ostens. 

»Hoffnungslosigkeit ist keine Option«: Vermeiden Lehrkräfte das Thema Israel aus Angst vor Überforderung? Die Paderborner Islamwissenschaftlerin Muna Tatari meint, dass an Schulen oftmals zu wenig über den Nahostkonflikt gesprochen wird – weil Lehrkräfte Eskalationen fürchten. 

Greta Thunberg sorgt mit Gaza-Protestbild für Kontroverse: Aktivistin Greta Thunberg widmet ihren aktuellen Klimastreik den Menschen in Gaza. Auf Instagram teilte sie zuvor einen Beitrag mit »Genozid«-Vergleich. Die Hamas erwähnt sie in ihren Posts nicht.

»Schon der Begriff ›Israelkritik‹ zeigt, dass es hier ein Problem gibt«: Im Kulturbetrieb gehört Israelkritik zum guten Ton, das zeigen auch die Debatten auf der Buchmesse. Die Politologin Nicole Deitelhoff erklärt, wie es dazu kommen konnte – und wo die Grenze zum Antisemitismus verläuft .

Söder bietet sich an

Juniorpartner der SPD? Im Selbstverständnis der Unionsparteien war das eigentlich undenkbar. Bisher. Nun aber bietet Markus Söder dem Kanzler offen an, FPD und Grüne rauszuwerfen, und stattdessen mit CDU und CSU zu regieren. Friedrich Merz hat das kürzlich auch schon gesagt, da hörte es sich aber noch wie ein Spaß an. Söder meint es offenbar ernst.

Söder, Scholz und Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (bei einem Besuch in einem Kraftwerk in Geretsried im August 2023)

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Peter Kneffel / dpa

Oder doch nicht? Der CSU-Chef weiß natürlich, dass Olaf Scholz nicht auf sein unmoralisches Angebot eingehen wird. Da mag die Stimmung in der Ampel noch so schlecht sein, der Kanzler wird nicht mal eben die Pferde wechseln. Zumal seine Partei, bei allem Ärger mit Grünen und Liberalen, keine Lust auf GroKo mit Merz und Söder hätte. Die könnten übrigens auch Neuwahlen fordern, die Umfragewerte der Union sind so gut wie lange nicht, während SPD und Co. der Absturz drohen würde. Allerdings wäre die Gefahr groß, dass die AfD mehr als 20 Prozent holt – das können auch die Konservativen nicht wollen.

Und so geht es den Unionsbossen vor allem darum, das Misstrauen in der Ampel weiter zu schüren und sich den Bürgerinnen und Bürgern als staatstragende, verlässliche Alternative anzudienen. »Regierung der nationalen Vernunft« – klingt doch toll. Besonders, wenn man hinterher sagen kann, dass der Kanzler das Angebot ausgeschlagen habe.

Womöglich kommen Scholz die Unionsavancen gar nicht so ungelegen. Sie könnten den Einigungsdruck in der Koalition erhöhen. Der Kanzler nutzte seinerseits ein SPIEGEL-Gespräch, um den Ton in der Flüchtlingspolitik zu verschärfen: »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.« Fraglich, ob er so für mehr Ruhe in der Ampel sorgen kann. Aus der SPD kam umgehend scharfer Widerspruch, Timon Dzienus, scheidender Sprecher der Grünen Jugend, unterstellte dem Kanzler eine »AfD-light-Strategie«, Grünen-Urgestein Jürgen Trittin kritisierte, »dass Abschotten, Abschrecken, Abschieben keine Migrationspolitik ist, sondern ein Konjunkturprogramm für Rassismus und Rechtsradikale«.

Hört sich so an, als könnten Söder und Merz ihre Bewerbung beim Kanzler bei Gelegenheit erneuern. Heute treten beide beim Deutschlandtag der Jungen Union in Braunschweig auf.

SPIEGEL-Gespräch mit Olaf Scholz: »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben« 

Ein Zerstörer als Präsident?

Kennen Sie Javier Milei? Der 52-Jährige könnte am Sonntag den ersten Schritt machen, um Präsident von Argentinien zu werden. Ist weit weg von Deutschland, klar, aber diesen Milei, den sollte man sich ruhig etwas genauer ansehen. Er ist, sagen wir es mal so, ein ungewöhnlicher Kandidat. Und ein gefährlicher.

Javier Milei (bei einem Auftritt am 18. Oktober in Buenos Aires)

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Foto: Juan Ignacio Roncoroni / EPA

Der ultrarechte, selbst ernannte Anarchokapitalist mit der wilden Frisur hat fünf geklonte Hunde zu Hause, im Wahlkampf wütet er zu Heavy-Metal-Musik gegen die »parasitäre politische Kaste dieses Landes«, er beschimpft den Papst als »lausigen Linken«, hantiert bei Auftritten mit einer Kettensäge und lässt schon mal Kopien von Dollarnoten regnen.

Den Dollar will Milei als Landeswährung einführen, er will die Zentralbank zerschlagen und die meisten Ministerien abschaffen. Bildung und Gesundheit sollen komplett in private Hände.

Und so einer hat Chancen, Staatschef zu werden? Das liegt an der verzweifelten Lage des Landes, das in einem schier ausweglosen Strudel aus Inflation und wirtschaftlichem Niedergang gefangen ist. »Viele Argentinier haben alle Hoffnungen verloren, dass ein traditioneller Politiker das Land aus der Krise führen kann«, schreibt mein Kollege Jens Glüsing in seinem Porträt des Kandidaten im neuen SPIEGEL. »Sie setzen auf den ultrakapitalistischen Messias Milei.«

Am Sonntag findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Die wahrscheinlich notwendige Stichwahl ist am 19. November.

Javier Milei – Argentiniens nächster Präsident? Der Zerstörer mit der Kettensäge 

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Verlierer der Woche …

…ist Jim Jordan. Nicht, dass Sie denken, ich lasse Sie heute mit dem Mann endlich mal in Ruhe. Nein, wenn jemand den Titel des Verlierers in dieser Woche verdient hat, dann ist es Jim Jordan, der Republikaner aus Ohio, der nun auch im dritten Anlauf beim Versuch gescheitert ist, sich zum Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses wählen zu lassen.

Jim Jordan

Foto: ANDREW CABALLERO-REYNOLDS / AFP

Bemerkenswerterweise ist er der erforderlichen Mehrheit nicht näher gekommen, im Gegenteil im Wahlgang am Freitag fehlten dem glühenden Trump-Fan 25 Stimmen aus den eigenen Reihen (am Dienstag waren es 20, am Mittwoch 22).

Der Kongress ist in Zeiten großer Krisen also weiterhin blockiert, die Trumpisten blamieren das ganze Land. Wie geht es jetzt weiter? Jordan ist raus, einen weiteren Wahlgang wird es für ihn nicht geben. Die Republikaner müssen einen neuen Kandidaten nominieren, der wenigstens in der eigenen Fraktion konsensfähig ist. Im Moment ist schwer vorstellbar, wie das gelingen soll. Am Montag wollen sich die interessierten Bewerber vorstellen.

Chaos im US-Kongress: Peinlich für Amerika 

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

Chinesisches Schiff könnte Pipeline-Leck verursacht haben: Wer beschädigte die Gaspipeline Balticconnector zwischen Estland und Finnland? Die Ermittler konzentrieren sich nun auf die Rolle eines chinesischen Containerschiffs – und einen Erdklumpen am Meeresboden.

Wegen Dopings – zwei Jahre Sperre für argentinischen Fußball-Weltmeister: Er hatte bei der WM in Katar mit Lionel Messi triumphiert: Alejandro Dario »Papu« Gómez von der AC Monza ist positiv auf das Medikament Terbutalin getestet worden – und wurde nun lange gesperrt.

Ex-Trump-Anwalt Kenneth Chesebro bekennt sich schuldig: Es ist bereits das dritte Schuldbekenntnis eines Mitangeklagten Donald Trumps. Kenneth Chesebro gestand die Verschwörung zum Einreichen falscher Dokumente. Somit könnte er bald gegen seinen ehemaligen Mandanten aussagen.

Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

Fernwärme oder Wärmepumpe? Millionen Immobilienbesitzer überlegen sich, wie sie künftig heizen sollen. Jetzt kommt es auf die Pläne von Stadtwerken und Kommunen an – und darauf, wann sie so weit sind .

Zu jung fürs Vergessen: Lukas Nowak war noch keine 50, als sich erste Alzheimersymptome zeigten. Die erbliche Variante beginnt besonders früh. Per Gentest lässt sich feststellen, wer betroffen ist. Aber will man das vorher wissen? 

»Wir müssen aufpassen, dass unser Stressfass nicht überläuft«: Grausame Bilder aus Israel, Gaza und der Ukraine, Klima-, Energie- und Wirtschaftskrise: Viele Eltern wissen nicht, wie sie mit ihren Kindern darüber sprechen sollen. Eine Psychologieprofessorin gibt Tipps .

Ich wünsche Ihnen ein sorgloses Wochenende.

Herzlich,

Ihr Philipp Wittrock, Chef vom Dienst in Los Angeles

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