Die Ampel steht vor dem Aus: Lindner und die FDP gehen voll ins ...
Die Forderungen im Positionspapier des deutschen Finanzministers sind in der Sache richtig. Aber sie setzen ihn selbst am meisten unter Zugzwang.
Christoph Hardt / Imago
Eigentlich macht der deutsche Finanzminister Christian Lindner von der FDP nur das, was sich seine beiden Regierungspartner zuvor auch herausgenommen haben. Er schreibt in einem Positionspapier nieder, welchen Wandel das Land nun aus seiner Sicht brauche, ohne dabei noch irgendwelche Rücksicht auf den Koalitionsfrieden zu nehmen. Aber für die von Leitartiklern im Land beargwöhnten bis verhassten Liberalen gelten schon lange Sondergesetze.
Die Konzeptpapiere der Sozialdemokraten und des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck hielten viele Journalisten noch für wichtige Denkanstösse, Lindners Papier hingegen wird als Kriegserklärung dargestellt. Was bei SPD und Grünen vollmundige Ideen für die Zukunft des Landes waren, sind bei den Liberalen neoliberale Erpressungsformeln. Eine Journalistin der «Zeit» verstieg sich sogar zu dem Urteil, Lindner «neurotisiere seit Monaten das Land». Es sei nun endlich an der Zeit, dem FDP-Chef Grenzen aufzuzeigen.
Und doch ist seit diesem Freitag etwas anders. Denn Christian Lindner ist ein weit grösseres Wagnis eingegangen als seine Wettbewerber Robert Habeck und Olaf Scholz. Das hat mehrere Gründe.
Die lebensbedrohliche Lage der FDPErstens geht Lindner mit seiner liberalen Positionsbestimmung auf grösstmöglichen Abstand zu beiden Regierungspartnern. Forderungen wie jene, die deutsche Klimapolitik vollkommen neu auszurichten und sich vom ehrgeizigen Ziel der Klimaneutralität 2045 zu verabschieden, müssen die Grünen als Affront empfinden. Lindner greift aber auch Kernanliegen der Sozialdemokraten an. Er will das Tariftreuegesetz von Arbeitsminister Hubertus Heil kippen und den Solidaritätszuschlag abschaffen. Damit bringt er nicht nur den Minister, sondern auch den Kanzler gegen sich auf, der ihn beim Beharren auf die Schuldenbremse lange unterstützt hat.
Zweitens befinden sich Lindner und die FDP in einer bedrohlichen Lage. Seit Monaten schon liegt die Partei in den Umfragen unter der für den Wiedereinzug ins nationale Parlament entscheidenden Fünf-Prozent-Marke. Die staatsgläubige Transformationspolitik des Dreierbündnisses hat den Liberalen massiv geschadet. Das Problem ist nicht, dass Lindner ständig sinnvolle Regierungsvorhaben behindern würde, wie es deutsche Journalisten auch jetzt wieder behaupten. Sondern, dass in einem Bündnis mit zwei linken Partnern grundsätzlich nur sehr wenig liberale Politik möglich ist. Deshalb wenden sich immer mehr klassische FDP-Wähler von der Partei ab.
Der Druck ist mittlerweile so gross, dass auch erste Absetzbewegungen von Lindner sichtbar werden. Noch bevor dessen Positionspapier an die Öffentlichkeit gelangte, schrieb der liberale Verkehrsminister Volker Wissing einen Gastbeitrag in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», in dem er Überlegungen eines vorzeitigen Endes der deutschen Koalition mit markigen Worten zurückwies. So unverhohlen hat noch kein führender FDP-Politiker die Autorität des Parteichefs infrage gestellt.
Rein inhaltlich betrachtet hat Lindner natürlich recht. Deutschland hat sich einen der ehrgeizigsten Pfade zur Klimaneutralität auferlegt, zugleich verzichtet es als einziges mächtiges Industrieland der Erde auf die Kernkraft. Das Land krankt an überbordender Bürokratie, hohen Sozialabgaben und einer maroden Infrastruktur.
Lindner setzt sich unter ZugzwangLindners strategische Lage ist dennoch heikel. Der Finanzminister hat mit seinen Vorschlägen nicht allein seine Partner in der Koalition unter Zugzwang gesetzt, sondern vor allem sich selbst. Er hat sich die Boxhandschuhe übergestreift und ist in den Ring gestiegen. Zwei Szenarien sind nun möglich.
Grüne und Sozialdemokraten können dem Kampf aus dem Weg gehen. Sie müssten der FDP dafür weit entgegenkommen und dem Finanzminister bei der Schlussabstimmung über den Haushalt Mitte November mehr geben, als für sie eigentlich vertretbar wäre. Das ist unwahrscheinlich.
Realistischer ist, dass sie den Kampf annehmen und den Finanzminister mit seinen Forderungen auflaufen lassen. Und dann bleibt Lindner nur eine gesichtswahrende Wahl: Er muss die Koalition platzen lassen. Wer von «Lebenslügen» der Regierung spricht, wie Lindner es nun getan hat, und diese Lügen dann noch ein weiteres Dreivierteljahr lang bis zum regulären Wahltermin mitträgt, der verliert jede Glaubwürdigkeit.
Wer, wie Christian Lindner, ein solches Machtwort spricht, muss entsprechend handeln. Andernfalls gefährdet er nicht allein die eigene Autorität, sondern das politische Überleben seiner Partei.