Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.10.2024 | Trauer um Kris ...

5 Tage vor
Efeu - Die Kulturrundschau Von Backenzahn zu Backenzahn Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

01.10.2024. Die Feuilletons trauern um Kris Kristofferson, den Erneuerer und Zerstörer, der wie nur wenige den Geist der amerikanischen Arbeiterklasse verkörperte. FAZ und Guardian lassen sich von Alessandro Michele für Valentino an neoromantischen Nasenringen führen. Lehrreich oder Befriedigung angstlüsterner Fantasien? Uneins sind sich die Kritiker, wenn Nicola Hümpel im Haus der Pressekonferenz mit Maximilan Steinbeis die Frage stellt: Was geschieht, wenn ein Rechtspopulist an die Macht kommt. Im Standard erzählt der ungarische Filmemacher Gábor Reisz, wie sich Filmemachen unter Orban verändert hat.

Kris Kristofferson - Figure 1
Foto perlentaucher.de

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.10.2024 finden Sie hier

Musik | Literatur | Bühne | Design | Architektur | Film | Kunst

Musik
Kris Kristofferson, 1978 (Bild: Promo/gemeinfrei)

Die Feuilletons trauern um Kris Kristofferson. Nach seinen ersten Erfolgen mit "Me and Bobby McGee" (in der Version von Janis Joplin) und "Sunday Morning Coming Down" (insbesondere in der Version von Johnny Cash) wurde er in den Siebzigern einer "der legendären Outlaws der Country-Musik, zu einem der bedeutendsten Singer/Songwriter Amerikas", erinnert Berthold Seliger im ND. Kristofferson "verkörpert wie nur wenige den Geist und das Lebensgefühl der amerikanischen Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert." NZZ-Kritiker Ueli Bernays weiß, worin die Methode Kristofferson als Songwriter bestand: "Die Musik drängt nicht in den Vordergrund, sie bewährt sich als Begleiterin von Texten mit literarischem Flair." Er "war ein Erneuerer und ein Zerstörer", hält Edo Reents in der FAZ fest - und holt Kristofferson aus dem Schattendasein des andere Interpreten beliefernden Songwriters, dessen eigenes Werk dabei zurücksteht, ein Stück weit heraus: "Wenn man sich die schwermütige Schönheit vergegenwärtigt, die Kris Kristofferson mit seinem oft in den Bass abgleitenden Bariton und mit seiner wunderbaren Lyrik ... verströmte, dann mag man ihn nur bedingt dazu zählen." Dass er eher als Hitlieferant Erfolg hatte, "mag daran liegen, dass Kristoffersons Stimme ein wenig dünn und uncharakteristisch klang", meint wiederum Detlef Diederichsen in der taz.

Kristofferson war, seufzt Kurt Kister in der SZ, "einer jener wenigen fernen Freunde, jener singenden Dichterinnen, Gebrauchslyriker und Alltagsphilosophen, von denen man 1972 dachte, sie würden niemals alt werden." Mit der Zeile "Freedom's just another word for nothing left to lose" in "Bobby McGee" hat er "nicht nur das Lebensgefühl von Kristoffersons Generation ausdrückt. Sie wird gültig bleiben für alle skeptischen, um ihre Fehler wissenden Menschen, die großen Worten misstrauen." Seine Biografie würde einen ziemlich unglaublichen "Roman über ein amerikanisches Männerleben" abgeben, glaubt André Boße auf Zeit Online und wirft Schlaglichter auf Kristoffersons bewegtes Leben. "Natürlich war er ein Fake", schreibt Alan Posener in der Welt: "Drei Akkorde und die Wahrheit, so definiert sich die Countrymusik selbst, und weiß doch, dass diese Aufrichtigkeit die größte Lüge ist: Musiker mit Cowboyhüten und Fransenhemden, die sehr viel mehr als nur drei Akkorde können und sich als Lkw-Fahrer und Quartalssäufer imaginieren, Millionäre, die sich als Sprecher des kleinen Mannes ausgeben."

Kris Kristofferson - Figure 2
Foto perlentaucher.de

Als "Repräsentant der sogenannten Outlaw-Bewegung, die das Genre von seinem reaktionären Image und aus den Fängen einer korrupten Musikindustrie zu befreien versuchte, wurde seine schauspielerische Karriere eher als Nebenprodukt des Musikers aufgefasst", meint Harry Nutt in der FR. Das gleicht Christoph Amend auf Zeit Online mit einem Blick auf Kristoffersons schauspielerisches Schaffen aus: "Die Kamera liebte sein zerknittertes Gesicht, seinen melancholischen Blick." Mit Sam Peckinpahs "Pat Garrett jagt Billy the Kid", in dem Kristofferson letzteren spielte, gelang ihm 1972 ein frühes Glanzstück: "Die Rolle des Cowboy-Außenseiters verkörperte Kris Kristofferson mühelos. Sie passte zu seinem Wesen und zu seinem Look, lange Haare, Cowboystiefel, die so alt waren, dass sie Western-von-Gestern-Geschichten hätten erzählen können."

Und hier tanzt er noch einmal mit Isabelle Huppert in Michael Ciminos "Heaven's Gate":

Weitere Artikel: Christian Werthschulte resümiert in der taz das Avantgarde-Festival "Wildwechsel" in Duisburg. Helmut Mauró spricht für die SZ mit dem Pianisten Daniil Trifonov, der auf seinem neuen Album "My American Story - North" nordamerikanische Kompositionen einspielt.

Besprochen werden Nick Caves großes Konzert in der Berliner Mehrzweckhalle am Ostbahnhof (FAZ, Welt), ein Aufritt der Sopranistin Golda Schultz mit dem von Paavo Järvi dirigierten Tonhalle-Orchester in Zürich (NZZ), der Saisonauftakt der Wiener Philharmoniker (Standard), ein Konzert der Bamberger Symphoniker in Frankfurt (FR) und neue Jazz- und Klassikveröffentlichungen, darunter "A New Day" von Giovanni Guidi ("Sein poetisch-entschleunigter Stil taucht ab in abstrakte harmonische Tiefen", schreibt Standard-Kritiker Ljubiša Tošić).

Literatur

Thomas Steinfeld wird geradezu schwindelig, wenn er sich für die SZ in die bislang gerade mal 21 von insgesamt 151 dem Literaturarchiv Marbach überlassenen Notizbücher Peter Handkes versenkt, die nun als aufwändig aufbereitete, digitale Edition vorliegen: "Wie geht das, jede halbwegs bemerkenswerte Regung innerhalb des eigenen Kopfes in eine Notiz zu verwandeln? Was ist das, immer wieder und in einem fort aus der Naivität des Wahrnehmens und spontanen Reflektierens herauszutreten und das Erlebte, Gedachte, Gefühlte zum Material einer Aufzeichnung zu machen? ... Sind diese Notizen, in all ihrer Genauigkeit und in ihrem nahezu monströsen Umfang, nicht ein Vampirismus an sich selbst, eine freundliche Weise der Selbstentfremdung womöglich, aber doch ein Sich-Nähren am eigenen Lebenssaft?"

Außerdem: Wieland Freund erklärt in der Welt, wie die Brontë-Schwestern zum Doppelpunkt in ihrem Familiennamen gekommen sind. Besprochen werden unter anderem Domenico Müllensiefens "Schnall dich an, es geht los" (taz), Jacques Lusseyrans "Das wiedergefundene Licht" (FR) und Markus Thielemanns "Von Norden rollt ein Donner" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.

Kris Kristofferson - Figure 3
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Bühne
Fabian Hinrichs als ein "Volksbürger". Foto: Falk Wenzel

Bereits am Freitag feierte "Ein Volksbürger" im Haus der Bundespressekonferenz Premiere: Die Regisseurin Nicola Hümpel hat das aus seinem Sachbuch "Die verwundbare Demokratie" entstandene Stück des Juristen und Verfassungsblog-Gründers Maximilian Steinbeis gemeinsam mit der Gruppe "Nico an the Navigators" auf die Bühne gebracht. Die Zeitungen brauchten offenbar eine Weile, um den Stoff zu verdauen, in dem ein smarter, von Fabian Hinrichs gespielter rechtspopulistischer Ministerpräsident, der die Wahl in einem nicht näher benannten Freistaat gewinnt. Ein "lehrreicher" Abend, der nicht nur die Frage behandelt: "Was geschieht, wenn ein rechtspopulistischer Regierungschef Gesetze ignoriert und der Bruch mit dem Rechtsstaat in Form von Verwaltungshandeln stattfindet", lobt Peter Laudenbach in der SZ. Beeindruckend findet er vor allem Hinrichs, mit dessen Figur sich weitere Fragen stellen: "Was, wenn rechte Demokratiefeinde sich nicht im Höcke-Stil mit SA-Parolen blamieren, sondern sich diffus modern geben, also am liebsten von Digitalisierung reden und nebenbei Grundrechte ignorieren?"

FAZ-Kritiker Simon Strauss ist zwar ein wenig genervt von der Tendenz zur "Verächtlichmachung alles Bodenständigen", etwa, wenn ein Landrat, der von "Ukrainern in SUVs" oder von "Multikulti-Städten" spricht, mit Fanfaren-Musik begleitet wird. Insgesamt sah er aber einen bedrohlich wirklichkeitsnahen "politischen Nachhilfeabend in Sachen Demokratiegefährdung." In der Welt spricht Jakob Hayner indes von einer "peinlichen" Inszenierung, die "auf anspruchslosem Ferdinand-von-Schirach-Fernsehspiel-Niveau vor sich hindümpelt" und "die angstlüsternen Fantasien des Justemilieus, das sich nichts lieber ausmalt als die Machtübernahme sogenannter Populisten, befriedigt". Für die Nachtkritik bespricht Frauke Adrians das Stück.

Szene aus "La fiamma". Foto: Monika Rittershaus

Ein Stück, das sich "dem Betrachter gnadenlos in die Magengegend bohrt", erlebt FAZ-Kritiker Clemens Haustein an der Deutschen Oper, wo Christof Loy die 1934 in Italien uraufgeführte und in Deutschland nur selten gespielte Oper "La fiamma" von Ottorino Respighi inszeniert hat. Haustein verbeugt sich vor allem vor Olesya Golovneva, die die lebenshungrige, junge Silvana spielt, die dem Gefängnis ihrer Ehe mit einem älteren Mann durch ein Verhältnis mit dem Stiefsohn entflieht, worauf der Mann stirbt und Silvana von der Gesellschaft als Hexe behandelt wird: Golovneva "singt das mit einer dunkel glühenden Stimme, unnachgiebig bis zur Unbarmherzigkeit, pulsierend von einem Vibrato, welches das Schwingen des ganzen Kosmos aufzunehmen scheint." Auch Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen erliegt der Wucht der Musik, fürs Libretto hat er nicht so viel übrig.

Kris Kristofferson - Figure 4
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Weiteres: Für die taz porträtiert Sophia Zessnik die argentinische Performancekünstlerin Marina Otero, deren Stück "Kill Me" am Berliner Hebbel am Ufer nun ihre Trilogie über Alltag und Psyche abschließt. Besprochen werden Pablo Lawalls Inszenierung von Ivana Sokolas und Jona Spreters "Der Grund. Eine Verschwindung" am Nationaltheater Mannheim (taz), Alexander Eisenachs Adaption von T.C. Boyles Roman "Blue Skies" am Deutschen Theater in Berlin (taz), Alexander Nerlichs Inszenierung von Mozarts "Idomeneo" am Staatstheater Mainz (FR), Amalia Starikows Adaption von Thomas Bernhards Roman "Alte Meister" sowie Maëlle Dequiedts Inszenierung des "Salon Strozzi" am Staatstheater Wiesbaden (FR).

Design
Valentino a la Alessandro Michele

Der Modeschöpfer Alessandro Michele hat bekanntlich Gucci verlassen (ein Haus, das jetzt in der Krise ist, hört man) und jetzt bei Valentino angefangen. Seine Entwürfe, eine Art romantischer Hippieschick, sorgen für Begeisterung. Auch bei Alfons Kaiser von der FAZ: "Es ist der Höhepunkt der Prêt-à-porter-Woche mit der Mode für Frühjahr und Sommer 2025. Und man weiß bei diesem Debüt gar nicht, wohin man schauen soll: herrliche Brokatjacken über Seidenhemden; Paillettenkaskaden, die in floralen Motiven schimmern; Rüschen über Rüschen, die oft in Stufenvolants auslaufen; ein roter Hut mit breiter Krempe, 'sehr groß', sagt Michele, 'aber nicht so groß wie bei Signor Valentino'."

Im Guardian schwärmt Jess Cartner-Morley: "Michele nahm die juwelengeschmückte römische Raffinesse von Valentino und spickte sie mit demselben Elstergeist, mit dem er Gucci aufpeppte. So gab es schlichte, damenhafte Jacken, aber auch Nasenringe aus Kristall. Romantische Stufenkleider und kitschige Pagenjacken. Damen der Haute Bourgeoisie der siebziger Jahre in wallenden Chiffons und Jungs der Generation Z mit Tattoos und Perlen. Die Gesichter der Models waren verschleiert, dramatisch schattiert unter Hüten oder mit Juwelen geschmückt, die von Backenzahn zu Backenzahn aufgereiht waren, so dass sie auf der Unterlippe lagen. ... Unter dem krawalligen Durcheinander beschwört Michele eine ganz bestimmte Welt herauf: einen raffinierten, üppigen Bildersturm, der ein enormes Ego, aber auch jede Menge Charme hat." Einige Bilder hier, bei der Vogue.

Und hier das Video:

Architektur

In der SZ ist Alexander Menden glücklich: Nach aufwändiger Renovierung für umgerechnet 18 Millionen Euro durch das Architekturbüro Haworth Tompkins ist das Londoner Warburg Institut, entworfen von Charles Holden, nun das modernste Gebäude des Bloomsbury-Campus: "Dem Beton seines Fundaments wurde die Asche des aus Deutschland geflohenen Warburg-Bibliothekars Hans Meier beigemengt - eine fast schon übermäßig pointierte Manifestierung des Warburg'schen Ineinandergreifens von Vergangenheit und Gegenwart. Das renovierte Institut selbst hält jedenfalls durchgehend die Balance zwischen 'neu' und 'eingelebt': (…) Das Auditorium und die im Tiefgeschoss angesiedelte 'Special Collection' sind in einer neu errichteten Struktur untergebracht, die bis zum Erdgeschoss hinauf den früheren Innenhof ausfüllt und dadurch bisher ungenutzte Flächen erschließt. Innen lässt eine weitere Glasdecke weiteres Tageslicht herein; von außen verweist das eingesetzte Backsteingebäude in seiner ornamentalen Klinkergestaltung bewusst auf die Fassade des Warburg-Hauses in Eppendorf.

Kris Kristofferson - Figure 5
Foto perlentaucher.de
Film

Im Interview mit dem Standard sprechen der ungarische Filmemacher Gábor Reisz und seine Produzentin Júlia Berkes über das Filmemachen in Orbáns Ungarn, das sich in den letzten Jahren entschieden geändert hat: "Film war anfangs nicht die Priorität der rechten Kulturpolitik", erklärt Berkes. "Als Fidesz an die Macht kam, wurde ein Ex-Produzent von 'Terminator' und 'Rambo' Leiter der einzigen staatlichen Filmförderstelle. Der neue Leiter war nicht politisch gesinnt und bemerkte schnell, dass Ungarn stärker im Gebiet des Arthouse-Kinos ist. Unter ihm wurden also Filme wie 'Son of Saul' gefördert, die auf Festivals sehr viel Erfolg hatten. Nach seinem Tod 2020 änderte sich alles. Nun liegt der Fokus vor allem auf Komödien und hochbudgetierten Historienfilmen. Für Arthouse-Kino gibt es fast keine Unterstützung mehr. Wir haben uns deshalb gleich für einen Low-Budget-Zugang entschieden." Und Reisz ergänzt: "Das mussten wir auch, weil viele Förderanträge aus politischen Gründen abgelehnt werden - entweder das Skript passt nicht oder die politische Haltung des Regisseurs. Der Kulturkampf ist radikaler geworden."

Weiteres: Jörg Seewald spricht für die FAZ mit Oliver Masucci, der in einem aktuellen ARD-Zweiteiler den von 1989 von der RAF ermordeten Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen spielt. Bert Rebhandl weist im Standard auf eine Reihe im Filmarchiv Austria mit Filmen nach E.T.A. Hoffmann hin. Thomas Klein schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf die Schauspielerin Maggie Smith (mehr zu deren Tod hier). Besprochen werden Jon Watts' auf AppleTV gezeigte Thrillerkomödie "Wolfs" mit Brad Pitt und George Clooney (SZ) und die Netflix-Doku "Mr. McMahon" über den Wrestling-Unternehmer Vince McMahon (Welt).

Kunst
Daido Moriyama: From "Pretty Woman". Tokyo, 2017. © Daido Moriyama/Daido Moriyama Photo Foundation.

Wie im "Rausch" entstehen die Bilder des japanischen Fotografen Daido Moriyama, der sein Leben lang mit Kompaktkameras hunderte Kilometer durch Städte wie New York, Paris, London, vor allem aber Tokio streunte, meist gar nicht erst durch den Sucher blickte und einfach drauf losknipste, klärt uns Philipp Meier in der NZZ auf. Die "hypnotisierenden" Aufnahmen von Gebäuden, Leuchtreklamen, Passanten und Hotelzimmern sind derzeit in einer Retrospektive im Photo Elysée in Lausanne zu sehen, seine radikalen Ideen im Fotobuch "Farewell Photography" nachzulesen, so Meier und zitiert den Meister: "'Der Titel mag vielleicht ironisch klingen, aber er beschreibt meine Hassgefühle. Ich möchte mich von diesen spirituell friedlichen Fotografien verabschieden - anders gesagt, von Fotografien, denen die Realität fehlt', erklärte er dazu. Moriyama beschreibt sich als einen rastlosen Spaziergänger. Am liebsten macht er Schnappschüsse während des Gehens. Dann sei alles in Bewegung, er selbst und die Welt um ihn herum."

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