Zum Tod von Johan Neeskens : Der Mann, der Holland vom WM ...
Am kommenden Montag treffen in München die Fußball-Nationalmannschaften von Deutschland und Holland aufeinander. Für beide Teams ist es ein wichtiges Spiel. Schließlich geht es in der Nations League um die Qualifikation fürs Viertelfinale.
Und trotzdem ist es kein Vergleich zu dem Spiel, das beide Mannschaften vor 50 Jahren am selben Ort, wenn auch in einem anderen Stadion ausgetragen haben. Es war das Finale der zehnten Fußball-Weltmeisterschaft. Und obwohl die Bundesdeutschen als Gastgeber des Turniers ins Endspiel eingezogen waren: Favorit waren sie an diesem 7. Juli 1974 nicht.
Diese Rolle gebührte den Holländern, die sich erstmals seit 1938 wieder für eine WM-Endrunde qualifiziert hatten. Mit ihrem totalen Fußball hatten sie während des Turniers das Publikum begeistert und die Fachwelt überrascht: So und nur so musste die Zukunft des Fußballs aussehen.
Alle stürmten, alle verteidigten, und über allem schwebte Johan Cruyff, das Genie am Ball. So wie in der ersten Minute des Finales im Münchner Olympiastadion, als Cruyff buchstäblich an Berti Vogts, seinem Bewacher, vorbeischwebte, ehe Uli Hoeneß sein Bein ausfuhr und ihn regelwidrig zu Fall brachte.
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Länderspiele bestritt Neeskens für die niederländische Nationalmannschaft
Nicht mal eine Minute war gespielt, da zeigte Schiedsrichter Jack Taylor im deutschen Strafraum auf den Elfmeterpunkt.
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Elfmeter waren bei den Niederländern ein Fall für den Mann mit der Nummer 13 auf dem Rücken, für Johan Neeskens, den gerade mal 22 Jahre alten Mittelfeldspieler von Ajax Amsterdam. Sepp Maier, Deutschlands Torhüter, war vorbereitet, weil Neeskens bei der WM bereits zwei Elfmeter geschossen und verwandelt hatte. Immer in die vom Torhüter aus gesehene rechte Ecke. Also schmiss Maier sich nach rechts.
Johan Neeskens (1951-2024)© imago/Pro Shots
Aber Neeskens trat, vielleicht vor Aufregung, mit seiner rechten Fußspitze in den Rasen. Die Kreide des Elfmeterpunktes spritzte auf, der Ball flog nicht – von ihm aus gesehen – nach links, sondern genau in die Mitte. Sepp Maier war geschlagen, Holland führte 1:0. Alles schien seinen vorbestimmten Gang zu gehen.
Dass die Holländer trotz ihrer frühen Führung, trotz ihrer fußballerischen Klasse, trotz ihrer anfänglichen Dominanz am Ende als Verlierer das Olympiastadion verließen und stattdessen die angeblich eher biederen Deutschen durch ihren 2:1-Sieg den WM-Titel gewannen, das hat sich in den Niederlanden irgendwann zu einer Art nationalen Trauma ausgewachsen.
Johan Neeskens hat es gleich zweimal erlebt.
Er gewann dreimal nacheinander den Europapokal der Landesmeister – da war er 21Vier Jahre später, bei der WM in Argentinien, stand er mit Oranje erneut im Finale. Wieder gegen den WM-Gastgeber. Und wieder war es denkbar knapp. Unmittelbar vor Ablauf der regulären Spielzeit traf Rob Rensenbrink beim Stand von 1:1 den Pfosten des argentinischen Tores. In der Verlängerung verloren die Niederländer noch 1:3.
Die Titel, die Neeskens mit dem Nationalteam verwehrt blieben, holte er mit seinen Klubs, mit Ajax Amsterdam, dem FC Barcelona und Cosmos New York. 1970 war er noch als Amateur von seinem Heimatverein Racing Club Heemstede zu Ajax gewechselt. Mit den Amsterdamern gewann er zweimal den nationalen Meistertitel und dreimal nacheinander den Europokal der Landesmeister. Da war er gerade 21.
Als Kind war er mein großes Idol. Beim Fußball auf der Straße wollte ich Johan Neeskens sein.
Ronald Koeman, niederländischer Nationaltrainer
Nach der WM 1974 folgte Neeskens Johan Cruyff zum FC Barcelona, wo er fünf Jahre blieb und weitere Titel holte. Unter anderem gewann er 1979 in Basel den Europapokal der Pokalsieger, durch den 4:3-Sieg im Finale gegen Fortuna Düsseldorf.
Noch viele Jahre nach seinem Abschied aus Barcelona riefen die Fans des Klubs im Camp Nou „Neeskens! Neeskens!“ – immer dann, wenn sie die aktuellen Spieler ihres Teams daran erinnern wollten, dass es im Fußball nicht nur um Schönheit geht, sondern manchmal eben auch um Kampf. „Neeskens war auch in Barcelona enorm beliebt“, hat Ronald Koeman, Hollands aktueller Bondscoach und früher selbst Spieler bei Barça, am Montag gesagt.
Johan Segundo, Johann der Zweite, wurde Neeskens in Barcelona genannt. Die klare Nummer eins war Cruyff, König Johan. Auch in den Niederlanden. Und trotzdem war Neeskens‘ Beitrag zum totalen Oranje-Fußball kaum zu überschätzen. 49 Länderspiele hat er für die Niederlande bestritten (eins mehr als Cruyff) und dabei 17 Tore erzielt.
König Johan (rechts) und Johan II. Cruyff und Neeskens spielten bei Ajax, beim FC Barcelona in in der holländischen Nationalmannschaft zusammen.© IMAGO/piemags
Die Zigarette im Mund, die Haare lang wie ein Popstar jener Zeit: So verkörperte Neeskens, ähnlich wie Cruyff, die neue niederländische Lässigkeit der frühen Siebziger. Vor allem aber beackerte er unerbittlich und unermüdlich das Mittelfeld und hielt damit das Clockwork Orange am Laufen.
Johan Neeskens war kein Filigrantechniker, aber davon hatten die Holländer in jener Zeit ohnehin genug. Er war ein Arbeiter, ein Dauerläufer, Balleroberer, hart gegen andere. Vor allem aber war er gegen sich selbst. Schmerz müsse man aushalten, hat er einmal gesagt. Kaum jemand verkörperte die Siegermentalität so wie Neeskens, der sich dank des Fußballs aus einfachen Verhältnissen nach oben gearbeitet hatte.
Der Fußball hatte ihm einen gesellschaftlichen Aufstieg verschafft, der dem Sohn eines Stahlarbeiters sonst wohl verwehrt geblieben wäre. Aber das süße Leben hielt auch Verlockungen bereit, denen Neeskens nicht immer gewachsen war. Er verlor sein Vermögen und zeitweise wohl auch die Kontrolle über sein Leben. Neeskens „verschwand immer mal wieder ein paar Tage spurlos“, hat Franz Beckenbauer in seiner Autobiografie über die gemeinsame Zeit in New York geschrieben. „Und dann war er morgens plötzlich wieder beim Training, als wäre nichts geschehen.“
Hollands heutiger Nationaltrainer Koeman eiferte Neeskens als Kind nach. Er war sein großes Idol. „Wenn ich als kleiner Junge auf der Straße Fußball gespielt habe, wollte der eine Johan Cruyff sein, der andere Wim van Hanegem. Ich wollte Johan Neeskens sein“, hat er am Montag erzählt. Koeman war fasziniert von dessen Stil, von seiner Zweikampfhärte, seinen Sliding Tackles, aber auch seiner Selbstverständlichkeit als Elfmeterschütze. Siehe 1974.
„Wenn die Leute heute noch über uns reden, haben wir etwas hinterlassen“, hat Neeskens einmal zum Vermächtnis der 74er gesagt. „Darauf können wir stolz sein.“ Fünf Spieler des holländischen Finalteams von München sind inzwischen verstorben: Johan Cruyff, Jan Jongbloed, der Torhüter ohne Handschuhe, Rob Rensenbrink, Wim Suurbier und Wim Jansen, der mit seiner Grätsche gegen Bernd Hölzenbein den Elfmeter zum zwischenzeitlichen 1:1-Ausgleich verschuldet hatte.
Johan Neeskens, der nach seiner Karriere als Spieler und einigen Stationen als Trainer in der Schweiz lebte, ist nun der sechste. Am Sonntag ist er überraschend verstorben, im Alter von 73 Jahren und während seiner Tätigkeit für das Programm World Coaches des KNVB in Algerien. „Der internationale Fußball verliert eine Legende“, schrieb der KNVB.