Friedensstifter Jimmy Carter wird 100
In seiner Amtszeit als 39. Präsident der USA hatte der ehemalige Erdnussfarmer Jimmy Carter eher wenig Fortune. Weltweites Ansehen erlangte er erst im Anschluss – mit seinem unermüdlichen Einsatz für Benachteiligte. Der RHEINPFALZ-Chefredakteur erinnert sich anlässlich des 100. Geburtstags Carters an eine sehr besondere Begegnung.
Als der Sänger Rufus Wainwright sein letztes Halleluja in Richtung Altar schmettert, schließt Jimmy Carter die Augen, legt seinen Kopf schief, verharrt für wenige Sekunden. Dann steht er auf. Dutzende Augenpaare richten sich auf den 88-Jährigen. Die Kirche St. Nikolaus in Wattenscheid ist nach langer Zeit mal wieder bis auf den letzten Platz gefüllt. Carter dreht sich um, lächelt Kindern zu, von denen kaum eins weiß, wer der nette Mann am Rednerpult überhaupt ist.
Es ist November 2012. Der ehemalige US-Präsident ist für eine Tagung nach Nordrhein-Westfalen gereist. Einen Tag lang geht es um sein Lebensthema: Frieden. So unbeliebt er in seiner Amtszeit gewesen sein soll, so viel Anerkennung hat er sich danach erarbeitet – mit unermüdlichem Einsatz für ein gutes Miteinander von Menschen in aller Welt. „Siehe, wie fein und lieblich ist’s, dass Brüder einträchtig beieinander wohnen!“: Der tiefreligiöse Carter, der bis ins hohe Alter Bibelstunden gab, wählt diesen Psalm für seine Rede mit Bedacht.
Es sind die kleinen GestenJimmy Carter gewinnt in Wattenscheid binnen Sekunden die Herzen: mit Zugewandtheit, Interesse und Wertschätzung. Es sind kleine Gesten, die den Erdnussfarmer a. D. auszeichnen. Das unprätentiöse Platznehmen inmitten von Kindergartenkindern auf den Stufen vor dem Altar. Das Schützen angespannter Journalisten vor aufgeregten Bodyguards, die nach den vereinbarten 15 Minuten Interview bereits nervös werden: „We’re not finished yet.“ Das Stuhl-des-Gesprächspartners-näher-zu-sich-ziehen sowohl beim Termin als auch beim Abendessen. „I do want to get to know you. I can hear you better this way.“
Zwölf Jahre ist das her. Zwölf Jahre, in denen der Autor dieser Zeilen beruflich viele spannende Gesprächspartner treffen durfte. Kaum einer hat so nachhaltig Eindruck hinterlassen wie der Amerikaner. Jimmy Carter feiert an diesem Dienstag seinen 100. Geburtstag – schwerkrank, zu Hause in Plains, Georgia. Ohne seine Rosalynn, die vor einem Jahr mit 96 verstarb. Die mehr als 60 Jahre an seiner Seite war – auch in Zeiten, in denen er kaum andere Herzen gewann.
Geiselnahme in TeheranDer Demokrat Carter zog 1977 ins Weiße Haus ein. Nach dem Watergate-Skandal aus der Ära Nixon und der Schmach des Vietnamkriegs wollten die Amerikaner einen wahrhaftigen Anführer. Es sollte letztlich nur eine Amtszeit für Carter werden: Insbesondere die Geiselnahme in der Teheraner Botschaft sowie die Inflation und das schwache Wirtschaftswachstum kosteten ihn den Job. Außenpolitisch verantwortete er aber auch das historische Camp-David-Abkommen 1978 – den ersten Friedensvertrag zwischen Israel und einem seiner arabischen Nachbarn: Ägypten.
Einsatz für SchwacheErstaunlich war die Wandlung vom vermeintlich gescheiterten Präsidenten zum hoch angesehenen Elder Statesman. Viele Nachfolger setzten auf ihn als Geheimbotschafter in schwierigen Krisen. Die Kombination aus Zugewandtheit, Wärme und Friedensrhetorik hat aus Carter einen Botschafter für das Gute in der Welt gemacht.
Bis ins hohe Alter reiste er um den Globus, um sich für Schwache einzusetzen. Mit „Habitat for Humanity“ ermöglichte er vielen Menschen ein Dach über dem Kopf. Oft griff er selbst zu Hammer und Kelle – ehe ihn der Krebs, Unfälle und Gebrechlichkeit an sein Zuhause fesselten.
Diejenigen, die ihm an diesem Novembertag 2012 in Wattenscheid begegnet sind, erinnern sich gut und gerne an einen Mann, den zunächst vielleicht nicht jedes Kind erkannte, aber schnell schätzen lernte. Der das gesprochene Wort als wirkmächtiges Werkzeug für Frieden einzusetzen wusste. Der mit seinem Wirken an vielen Orten Frieden stiftete.
Halleluja!