Japan: Den Streitkräften gehen die Rekruten aus

Die japanische Regierung hat hochfliegende Pläne in der Verteidigungspolitik. Doch fehlt es an Rekruten und Kampfbereitschaft.

Mitglieder der japanischen Landstreitkräfte bei einem Manöver mit britischen Truppen in der Präfektur Gunma.

Mitglieder der japanischen Landstreitkräfte bei einem Manöver mit britischen Truppen in der Präfektur Gunma.

Keizo Mori / Imago

So schlimm war es noch nie: Bis im März 2023 erreichten die japanischen Selbstverteidigungskräfte (SDF) ihr Einstellungsziel nicht einmal zur Hälfte. 9245 Soldatinnen und Soldaten sollten im kürzlich vollendeten Finanzjahr rekrutiert werden. Für den Dienst am Vaterland liessen sich gemäss der Zeitung «Nikkei» aber nur 4300 Personen begeistern. Damit verstärkt sich ein Problem, das Japan seit Jahren plagt: Personalmangel. Gelang es den SDF in den Rekrutierungsrunden der vergangenen Jahre meist, mehr als 80 Prozent des Personalbedarfs zu decken, sind es jetzt weniger als 50 Prozent. Und dies trotz Japans stark angespanntem Verhältnis zu Nordkorea und China.

Unattraktive Bedingungen

Ein bedeutsamer Faktor für das Nachwuchsproblem ist Japans Demografie. 1994 umfasste die Zielgruppe der 18- bis 26-Jährigen rund 17 Millionen; bis 2018 schrumpfte die Zahl möglicher Aspiranten auf 11 Millionen. Zudem gilt eine Armeekarriere in Japan als wenig attraktiv: Ein Polizeiaspirant verdient mehr als ein SDF-Rekrut. Auch schlechte Unterkünfte, häufige Standortwechsel und ungewisse Zukunftsperspektiven schrecken potenzielle Interessenten ab. Im Sold der SDF stehen 247 000 Personen. Die Streitkräfte erreichen damit 90 Prozent des angestrebten Personalbestandes.

Japans Regierung hat 2018 das Rekrutierungsalter auf 32 Jahre erhöht, um den Pool zu vergrössern. Und im Verteidigungsbudget, das innerhalb der nächsten fünf Jahre verdoppelt wird, sind zusätzliche Mittel für höhere Löhne und Investitionen in die Kasernen eingeplant. In den teilweise veralteten Unterkünften frieren die Uniformierten im Winter und schwitzen im Sommer.

Lieber nicht in der Uniform gesehen werden

Ob Komfort in den Kasernen, peppige Werbekampagnen und finanzielle Anreize das Personalproblem der SDF lösen, ist allerdings fraglich. Tomohiko Taniguchi, Professor an der Universität Tsukuba und früher Berater des ermordeten Ministerpräsidenten Shinzo Abe, verweist auf ein grundlegenderes Hindernis: die Reputation.

«Ob in Tokio oder einer anderen japanischen Stadt, Sie sehen höchst selten einen Soldaten in Uniform auf den Strassen», sagt Taniguchi. Armeeangehörige wüssten genau, dass ihnen ausserhalb der Kasernenmauern bestenfalls mit Neugier begegnet werde, sicher aber nicht mit Respekt. Zudem trüben Berichte über Mobbing und einen ruppigen Umgang mit Jungsoldaten das Image der Truppen. Viel Wohlwollen holt sich die SDF nur bei Einsätzen im Katastrophenschutz.

Der ehemalige Abe-Berater Taniguchi glaubt, die pazifistische Verfassung verstärke die Skepsis gegenüber den Uniformierten. «Wer den Text wortwörtlich liest, kommt zum Schluss, dass Japans Streitkräfte eigentlich der Verfassung widersprechen.» Im pazifistischen Artikel 9 entsagt Japan dem Recht, als unabhängige Nation Krieg zu führen. Der einstige Aggressor, der bis 1945 die koreanische Halbinsel kolonisierte, verpflichtete sich nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg, keine Armee mehr aufzubauen. Später wurden Japan sogenannte Selbstverteidigungskräfte zugestanden; eine defensive Streitmacht, die Feinde abwehren könnte, aber ohne offensives Bedrohungspotenzial.

Japan gefiel sich in der Rolle des friedliebenden Stabilitätsankers in Ostasien. Allerdings erweist sich dieses Selbstbild als Illusion. Die Selbstverteidigungskräfte stehen heute als eine der am besten ausgerüsteten Armeen Asiens da. Vom Geist der Verfassung hat sich die Realität schon längst entfernt. Shinzo Abe scheiterte aber mit seinem Vorhaben, den Status der Land-, Luft- und Seestreitkräfte in der Verfassung zu legitimieren.

Von einem historisch bedingten Antimilitarismus spricht Alexandra Sakaki, Japan-Expertin bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin. «Viele Japanerinnen und Japaner ziehen es schon gar nicht in Betracht, in der Armee zu dienen.»

Als Ausdruck einer militärkritischen Haltung interpretiert Sakaki Analysen, die Japan im Unterschied zu anderen asiatischen Ländern eine geringe Kampfbereitschaft attestieren. Laut einer Erhebung der taiwanischen Universität Soochow von 2019 wären bloss 13 Prozent der Bevölkerung bereit, im Kriegsfall ihr Land zu verteidigen. Allerdings zeigen Umfragen in westeuropäischen Ländern auch nach dem Angriff auf die Ukraine eine eher niedrige Kampfbereitschaft.

Sakaki findet es nicht erstaunlich, dass Japan im Vergleich zu Südkorea oder Taiwan wenig Verteidigungswillen offenbart. Die beiden Korea befinden sich formal immer noch im Krieg – die Kampfhandlungen auf der koreanischen Halbinsel endeten 1953 lediglich mit einem Waffenstillstand. In Südkorea sei die Bedrohung durch Nordkorea sehr präsent, betont Sakaki. Zudem bewirke die Wehrpflicht für Männer, dass sich diese automatisch mit möglichen Kampfhandlungen beschäftigen müssten. Ähnlich verhält es sich in Taiwan.

Auch eine Hightech-Armee braucht Personal

Angesichts der knappen Personalressourcen scheint es naheliegend, auf dem Feld vermehrt automatisierte Systeme einzusetzen: Nachschubtransporte mit Drohnen oder unbemannte Boote. Allerdings halten Experten die Vorstellung einer personell superschlanken Hightech-Armee für unrealistisch. Selbst modernste Waffen und Transportmittel brauchen nämlich Personal für Wartung und Betrieb.

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