Bevölkerungsschwund: Wird Japan zum Einwanderungsland?

Die japanische Gesellschaft schrumpft, dennoch wehrt sich das Land gegen die Zuwanderung.

Zahllose «technische Facharbeiter» arbeiten mittlerweile im Baugewerbe und in Werften, doch divers ist Japan deswegen noch lange nicht. – Modeviertel Harajuku in Tokio.

Thomas Peter / Reuters

Japan - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Demografische Prognosen prophezeien in Japan für die nächsten Jahrzehnte einen deutlichen Bevölkerungsrückgang. Es wäre die beschleunigte Fortsetzung des gegenwärtigen Trends. Vor zwanzig Jahren lag die Bevölkerungszahl bei 127 Millionen, jetzt sind es noch 125 Millionen.

Ein von der Regierung finanziertes Forschungsinstitut, das die Bevölkerungsentwicklung und Veränderungen in der Sozialstruktur untersucht, prognostiziert für das Jahr 2060 eine Zahl von etwas mehr oder weniger als 90 Millionen Einwohnern, je nachdem, ob man eine eher hohe oder niedrige Geburtenrate annimmt.

Dass die Zeugungsfreude der Japaner zunehmen wird, ist unwahrscheinlich. Der Druck, als Familie zu reüssieren und die gängigen Standards zu erfüllen oder zu übertreffen, ist ungeheuer, und er wächst weiter. Das bedeutet, dass es sehr kostspielig ist, den eigenen Kindern – oft ist es nur eines – jene Ausbildung zukommen zu lassen, die man für angemessen hält. Viele, vor allem Kinder, halten dem Druck nicht mehr stand.

Ausländer sind Gäste

Nun könnte man sagen: Macht nichts, Japan ist eben zu sehr gewachsen, es ist an der Zeit, zurückzuschrauben, am besten auf kontrollierte Weise. Das Problem dabei ist, dass der Schrumpfungsprozess exponentiell zunimmt, die Bevölkerung noch mehr überaltert, die Zahl der Menschen, die überhaupt zeugungsfähig sind, sinkt und kein Geld mehr für staatliche Renten da ist. So müssen viele bis ins hohe Alter schlecht bezahlte Jobs annehmen, um überleben zu können.

Parallel dazu nimmt allerdings die Zuwanderung aus dem süd- und ostasiatischen Raum zu. Eine Studie desselben Forschungsinstituts besagt, dass die Zahl der Ausländer in Japan 2070 etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen dürfte.

Im Widerspruch zu solchen Entwicklungstendenzen gibt es hierzulande kaum Vorstellungen, wie das Zusammenleben mit den neuen Gruppen konkret aussehen könnte. Sowohl unter Politikern als auch in der japanischen Bevölkerung betrachtet man es als Selbstverständlichkeit, dass diese Ausländer als Gäste hierherkommen und früher oder später in ihr Land zurückkehren. Gäste akzeptiert man und behandelt sie höflich, lässt sie aber nicht ins eigene Haus, weil man davon ausgeht, dass die kulturellen, sprachlichen und ethnischen Unterschiede eine Teilnahme der anderen unmöglich machen.

Die Idee des Gastarbeitertums verbreitete sich in westeuropäischen Ländern in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Obwohl sie damals gescheitert ist, greifen rechtspopulistische Politiker heute wieder darauf zurück. In Japan wurden zahlreiche brasilianische Arbeitskräfte in der Automobilindustrie nach der globalen Finanzkrise 2008, als die Produktion zurückgefahren wurde, dafür bezahlt, dass sie in ihr Herkunftsland zurückkehrten, mit der Auflage, künftig nicht mehr japanischen Boden zu betreten.

Diese «Nikkei» – japanischstämmige Brasilianer, in Südamerika leben mehr als 2 Millionen – kamen zunächst mit der Einwanderungswelle der neunziger Jahre zurück in das Land, das ihre Vorfahren verlassen hatten, weil es zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Japan grosse Armut gab. Jetzt will man sie nicht mehr hier haben. Vielleicht sind sie zu brasilianisch, zu wenig japanisch? Unter Einheimischen gab es immer wieder Bedenken, dass sich die Nikkei nicht an hiesige Regeln und Gepflogenheiten halten würden. Es gab und gibt durchaus etwas wie eine unausgesprochene Diskriminierung.

Die Koreaner, die blieben

Eine andere, noch frühere Einwanderungswelle wurde durch Koreaner gebildet. Die Anfänge liegen in der Zeit des japanischen Kolonialismus; während des Pazifischen Kriegs wurden viele Koreaner zwangsweise als Arbeitskräfte nach Japan gebracht. Nicht alle reisten nach Kriegsende zurück, andere trieben der Bürgerkrieg und die politischen Verhältnisse in den beiden Diktaturen in die Gegenrichtung.

Heute ist Japan spröde, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht, trotz dieser ins letzte Jahrhundert zurückreichenden Vorgeschichte. Viele der «Zainichi», der in Japan lebenden Koreaner, haben bis heute nicht die japanische Staatsbürgerschaft, obwohl viele von ihnen das Land ihrer Vorfahren kaum kennen und die Sprache nicht sprechen. Immer noch ist die Vorstellung dominant, dass das Blut entscheidet, wer Japaner ist und wer nicht. Ein Kind mit einem ausländischen Elternteil nennt man daher «Half».

Was Flüchtlinge heute betrifft, so wurde 2022 lediglich 202 Personen Asyl gewährt, 1780 Personen erhielten humanitären Schutz – auch nicht sehr viel, wenn man die Grösse des Landes bedenkt. 147 der Asylsuchenden stammten aus Afghanistan, mit einem deutlichen Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren, nachdem die Taliban dort an die Macht gekommen waren. Nur 26 Personen aus Myanmar wurden aufgenommen, obwohl die Menschenrechtslage dort katastrophal ist.

Mittlerweile ist die demografische Entwicklung in Japan so dramatisch geworden, dass die neuen Einwanderungswellen das trotz allen Beteuerungen immer noch recht verschlossene Land umgestalten könnten. Über diese Möglichkeit gibt es bislang keine breite Diskussion, viele glauben immer noch, dass man, um die Wirtschaftskrise infolge des Arbeitskräftemangels zu bewältigen, auf Gastarbeiter zurückgreifen könne, die man früher oder später wieder loswerden werde.

Zahllose «technische Facharbeiter» arbeiten im Baugewerbe und in Werften, künftig aber, begünstigt durch einen neuen Regierungserlass, auch in der Fischerei und der Fischverarbeitung, in der Landwirtschaft, in Hotels, in der Altenpflege, in den «Konbinis», den allgegenwärtigen Gemischtwarenläden. Sie kommen nach wie vor oft aus China, im letzten Jahrzehnt aber vor allem aus Vietnam, aus Indonesien, andere, unter ihnen Programmierer und Ingenieure, aus Indien, Pakistan, Bangladesh.

Kundgebungen gegen Ausländer wie in Europa sieht man freilich hier nicht. Das hängt wohl mit der generellen Zurückhaltung in der Alltagskommunikation und der notorischen Höflichkeit zusammen, heisst aber nicht, dass es hier keine Ressentiments gäbe. In den sozialen Netzwerken schlägt einem auf Japanisch ebenso viel Ausländerhass entgegen wie in anderen Sprachen.

Sprach- und Schreibhürden

Einige Universitäten bemühen sich krampfhaft um einen globalen Status und versuchen, die japanischen Studenten zur englischen Kommunikation zu befähigen, was trotz – oder wegen – den vielen Examen nicht gelingen will. Der Anteil der chinesischen Studenten ist beträchtlich, in manchen Abteilungen bilden sie sogar die Mehrheit. Die Regierung möchte die Zahl der ausländischen Studenten erhöhen, und sie möchte auch, dass mehr von ihnen im Land bleiben, um hier zu arbeiten, nachdem sie eine japanische Ausbildung genossen haben und mit den hiesigen Gepflogenheiten vertraut sind.

Ein Grund für diese Politik ist, dass auch die Zahl der japanischen Studenten sinkt und einige der zahllosen Universitäten des Landes bereits in ihrer Existenz bedroht sind. Die Studiengebühren sind enorm, chinesische Studenten oder ihre Eltern können sie sich vielfach leisten, aber indonesische meist nicht.

Natürlich gibt es auch Stipendien, und gerade unter Indonesierinnen sind der Wunsch und die ökonomische Notwendigkeit, in einem Land wie Japan zu arbeiten, verbreitet. In Indonesien selbst, mit 280 Millionen Einwohnern das viertgrösste Land der Erde, gibt es Hochschulen, in denen junge Menschen in Kranken- und Altenpflege ausgebildet werden und dabei auch Japanisch lernen. Dies ist durchaus im Sinne der Gastarbeiter-Idee, einige dieser Schulen werden von japanischer Seite unterstützt.

Nach Aussage einer Studentin sind Indonesierinnen zur Altenpflege besonders begabt. Bei Eintrittsprüfungen für Krankenpfleger in japanischen Krankenhäusern treten regelmässig viele Indonesierinnen an, aber nur ein verschwindender Prozentsatz besteht sie.

Der Grund? Mangelhafte Sprachkenntnisse. Tatsächlich ist es fast unmöglich, das Japanische, vor allem das Schriftzeichensystem, so gut zu erlernen, dass man sich reibungslos als Pfleger in ein Krankenhaus einfügen kann. Auf die Idee, alle Medikamente Englisch zu beschriften, scheint bisher niemand gekommen zu sein. Was wiederum mit der Unfähigkeit der jungen Japaner, sich Fremdsprachen anzueignen, oder genauer: mit dem unproduktiven, in erster Linie disziplinierenden Schulsystem zu tun hat.

Das hohe, bis heute ungebrochene Arbeitsethos in Japan bringt es mit sich, dass nur wenige Arbeiten grundsätzlich verachtet werden. Krankenpfleger gilt immer noch als erstrebenswerter Beruf. Und dennoch wird das Personal langsam knapp. Unlängst wurden die Regeln für Ausländer in der Altenpflege geändert. Das hat zur Folge, dass mehr Ausländerinnen in diesem Bereich arbeiten können, allerdings nur in Heimen und Krankenhäusern, nicht in der Pflege zu Hause. Sie dürfen die bedürftigen Alten nicht im Bad oder beim Essen unterstützen.

Die strengen, immer weiter hochgeschraubten Sicherheitsvorkehrungen verhindern oft abweichende Verhaltensweisen, die aber möglicherweise ebenso zielführend wären wie die üblichen, regelkonformen. Und oft sind die Vorschriften einfach überzogen. Änderungen brauchen in Japan länger als anderswo, um sich durchzusetzen. Aber früher oder später kommen sie doch.

Vorausgesetzt, ausländische Arbeiter wollen weiterhin kommen. Der schwache Yen und die wirtschaftliche Stagnation bewirken, dass das Lohnniveau mittlerweile relativ niedrig ist. Und im ostasiatischen Raum gibt es Konkurrenz, es herrscht ein Gerangel um Arbeitskräfte. Viele gehen in letzter Zeit lieber nach Südkorea oder nach Taiwan, wo auch die bürokratischen Hürden niedriger sind. Es könnte auch sein, dass Vietnamesen, Indonesier, Filipinos das schrumpfende Land seinem Schicksal überlassen. So wird sich das japanische Volk nolens volens rein erhalten. Dem Abschied entgegen.

Leopold Federmair ist Schriftsteller und Übersetzer. Er ist in Oberösterreich geboren und lebt seit 2002 in Japan und seit 2006 in Hiroshima.

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