Popstar der Forschung Unter Menschenaffen – zum 90. Geburtstag von Jane Goodall

Sie war die Erste, die einem Schimpansen in freier Wildbahn jemals nahekam. Ihre Beobachtungen machten sie zu einer Art Popstar der Verhaltensforschung: Am 3. April wird Jane Goodall 90 Jahre alt. Würdigung einer starken Frau, die ihr Leben unseren nächsten Verwandten widmete.

Ein Leben lang an der Seite der Schimpansen: Jane Goodall.

Foto: J.Giustina/dpa

Ein Bauernhof irgendwo in England, Ende der Dreißigerjahre. Ein vierjähriges Mädchen streift durch das Hühnergehege, am Arm einen Korb zum Eiersammeln. Aber woher kommen die Dinger eigentlich? Oder besser gefragt: Wie und wo kommt ein so großes Ei aus dem Huhn heraus? Nach allerhand Aufruhr im Hühnerstall, unzähligen Fluchtaktionen panischer Hennen und langen Stunden regungsloser Wartezeit (die Mutter hat ihre Tochter bei der Polizei längst als vermisst gemeldet) weiß sie es: Endlich kann sie beobachten, wie eine Henne ihr Ei legt. Dies ist der erste erfolgreiche Feldversuch der kleinen Jane Goodall. Es sollte einer folgen, der ihr ganzes Leben bestimmte.

Rund 22 Jahre später, im Juli 1960, steigt die 26-jährige Jane aus einem kleinen Fischerboot am Ufer des Taganikasees im afrikanischen Tansania. Im Gombe-Nationalpark soll die junge Frau Schimpansen beobachten und ihr Verhalten studieren. Sie soll durch das Fenster in die Vergangenheit schauen, um von den Affen etwas über die Ursprünge der Menschheit zu lernen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken. Auftraggeber ist ihr Arbeitgeber und Mentor Louis Leakey. Den Paläoanthropologen (Fachleute, die zur Evolution des Menschen forschen) hat sie in Kenia zufällig beim Besuch einer Freundin kennengelernt. Leakey bemerkt schnell das Potenzial dieser jungen Frau, die für ihre Sache brennt. „Louis erkannte, dass ich alles mitbrachte, was es für eine Feldforschung braucht: Geduld, Durchhaltevermögen, Neugier", erinnert sich Goodall in einem Interview mit dem kanadischen Journalisten Silver Donald Cameron im Jahr 2014. Das Geld für die Schiffsreise nach Kenia hatte sie sich mit Kellnern und einem Sekretärinnenjob zusammengespart.

Und während die Welt in den 60-er Jahren durch Krisen, Kriege und Revolten schlitterte, die Berliner Mauer gebaut und John F. Kennedy ermordet wurde, lebte diese junge Frau ihren Kindheitstraum: ein Leben in Afrika mitten unter den Tieren. Als Teil einer Gemeinschaft von Schimpansen, fernab der Zivilisation. „Schon als neunjähriges Mädchen wollte ich sein wie Tarzan", sagt Jane im Interview. Ihr Vorname sei zwar nur ein Zufall – „trotzdem hatte Tarzan in meiner Vorstellung die falsche Jane geheiratet", erzählt sie lächelnd. Immer wieder spielt dieses amüsierte Zucken um ihre Lippen. In ihrem sanften Blick lodert das, was jeder Forscher im Übermaß braucht: unstillbare Neugierde.

Dass dieser jungen Frau gelingen wird, was niemandem zuvor gelang, und dass sie die Verhaltensforschung revolutionieren wird, das ahnt zu diesem Zeitpunkt keiner. Jane am allerwenigsten. Sie hat keinerlei wissenschaftliche Ausbildung, geschweige denn einen Uniabschluss. Und die ersten Monate im Land der „Chimps", wie Goodall die Schimpansen grundsätzlich liebevoll nennt, sind ähnlich frustrierend wie der Anfang ihres ersten Feldversuchs im Hühnerstall. Sobald Jane in ihre Sichtweite kommt, suchen die Affen das Weite. Monatelang geht das so. Das Fernglas wird zu Goodalls einzigem und wichtigstem Begleiter. Tag für Tag steht sie im Morgengrauen auf, streift bis zur Abenddämmerung durch das Dickicht, erklimmt Hügel, sucht sich Verstecke, von denen aus sie – zumindest aus der Ferne – die Affen beobachten kann. An manchen Tagen bekommt sie kein einziges Tier zu Gesicht.

Und dann, eines Tages, während die Affenfamilie in einem großen Feigenbaum Früchte isst, geschieht die Wende: Ein ausgewachsenes älteres Schimpansenmännchen raschelt plötzlich in der Nähe im Gebüsch – völlig ungerührt von der Anwesenheit der haarlosen Beobachterin mit der hellen Haut. Jane nennt ihn David Greybeard, wegen seiner grauen Backenhaare. Er ist der erste Schimpanse, der nicht das Weite sucht vor dieser fremden Waldbewohnerin, die auf dem Boden sitzt und manchmal nur so tut, als esse sie Blätter. Der erste, der sich ungerührt von Jane beobachten lässt, wie er einen Grashalm in einen Termitenhügel steckt und die Insekten mit den Lippen abstreift. Mit unendlicher Geduld, unerschütterlichem Willen und Demut vor den Lebewesen, die sie umgeben, hat sie es geschafft: Jane Goodall ist Teil der Dschungelgemeinschaft geworden.

Es folgt die wohl schönste Zeit im Leben der Forscherin. Endlich ist sie ein akzeptierter Teil der Schimpansengruppe und darf den Tieren so nahekommen wie nie ein Mensch zuvor. Goodall ist die erste Forscherin, die ihren Beobachtungsobjekten Namen gibt. Da ist zum Beispiel Flo, die Schimpansin mit der Knubbelnase und den ausgefransten Ohren. Jane erlebt die Geburt ihres Sohnes Flint, er ist das erste Affenbaby ihrer Forschungszeit. Später kommt Flints Schwester Fiffi auf die Welt. Jeden Tag erlebt Jane Goodall ein Stückchen mehr, wie die Schimpansen uns Menschen ähneln. „Freude, Trauer, Angst und Eifersucht – all diese Gefühle empfinden die Schimpansen wie wir", sagt sie im Film „Jane" von Brett Morgen. Hier dokumentierte der Regisseur 2017 anhand von bis dato ungesehenen Original-Filmaufnahmen das Leben der Ausnahmeforscherin.

Ihre bahnbrechendste Erkenntnis aus der Zeit im Dschungel aber wird diese: Schimpansen können nicht nur Werkzeuge benutzen. Sie können auch gezielt welche bauen, etwa aus Ästen, deren Blätter sie abstreifen, um anschließend damit in Termitenhügeln zu stochern. Dies ist eine Revolution der Wissenschaft: Bis zu diesem Tag hat der Mensch sich für das einzige Wesen der Schöpfung gehalten, das Werkzeuge herstellen konnte. Es gilt bis dato als das Alleinstellungsmerkmal des Homo sapiens, der selbsternannten Krone der Schöpfung. Ihr Mentor erkennt dies sofort: Als Goodall Louis Leakey ihre Beobachtungen schreibt, textet dieser zurück: „Entweder wir definieren den Menschen neu, oder betrachten Schimpansen als Menschen."

Eine solches Neuschreiben der Verhaltensforschung – und dies von einer jungen Frau, die ihren Objekten Namen gibt, weder studiert noch einen wissenschaftlichen Abschluss hat. Das stößt in den Kreisen etablierter Wissenschaftler nicht überall auf Gegenliebe. Goodall stört das nicht. Sie kämpft weiter für ihre Sache. Leakey setzt durch, dass sie an der Universität of Cambridge eine Promotion in Ethnologie machen darf. Fördergelder fließen, sogar ein Filmteam soll sie künftig in den Dschungel begleiten. Was Goodall zunächst weniger gefällt, entwickelt sich als zweiter Glücksfall in ihrem Leben. Der niederländische Naturfotograf Baron Hugo van Lawick wird ihr treuer Begleiter, Seelenverwandter – und später ihr Ehemann und Vater von Sohn Hugo, Spitzname Grub.

Goodall geht mit der Zeit. Sie ist keine verschrobene Einzelgängerin, die sich hinter Aufzeichnungen und Notizen versteckt. In ihrer englischen Heimat wird sie zum Medienstar. Sie ziert das Cover des „National Geographic“, hält Vorträge, gibt Interviews, schreibt Autogramme. Sie wird zum Popstar der Forschungsszene. Sogar eine Barbiepuppe und ein Legoset werden nach ihr kreiert. Ihre Welt ist das nie. Aber sie ist klug genug, den Ruhm geschickt zu nutzen, um ihr Herzensanliegen voranzutreiben. Ohne Förderer und Geldgeber geht das nicht. So kann in Gombe schließlich eine Forschungsstation gebaut werden, Studierende ziehen ein, und Feldforschung geschieht in immer größerem Stil.

Jane Goodall reist derweil zunehmend um die Welt, um für ihre Sache zu werben: den Schutz der Tiere und der Umwelt. Sie gründet die Jane Goodall Stiftung, die sich heute mit Projekten in vielen Ländern für den Erhalt der Schimpansenpopulationen einsetzt. Im Programm „Roots and Shoots“ engagieren sich mittlerweile Tausende Kinder und Jugendliche für den Schutz von Tier und Umwelt.

Ihr wahres Zuhause bleibt ein Leben lang der Dschungel von Tansania. Immer wieder kehrt sie dorthin zurück, erlebt den Lebenskreislauf in der Affenpopulation, begleitet ihre Gefährten. Sie muss mitanschauen, wie eine Polioinfektion die Tiere dahinrafft. Affenmännchen McGregor kann mit gelähmten Beinen eines Tages nicht mehr auf Bäume klettern. Bevor der betagte Gefährte im Dickicht elend verendet, erlösen ihn Goodall und ihr Team. Aber die Forscherin muss schließlich auch lernen: Schimpansen sind nicht besser als wir Menschen. Sie werden zu dreisten Plünderern, zeigen Futterneid und können auch höchst aggressiv werden. Goodall wird Zeitzeugin einer Art Bandenkrieg, an dessen Ende eine von zwei Affengruppen von der anderen ausgelöscht ist.

Die berührendste Szene aus dem Film, der ihren Vornamen trägt, ist diese: „Flo starb, als sie den reißenden Fluß Kokombe überqueren wollte. Sie sah friedlich aus. Als hätte ihr Herz einfach aufgehört zu schlagen. Flint saß dicht bei ihr am Ufer. Gelegentlich ging er zu ihr, als ob er sie anbetteln wollte ihn zu lausen. Ihn zu beruhigen. So wie sie es sein ganzes Leben über getan hatte."

Flint, das erste Affenbaby, das Jane Goodall auf dem Arm gehalten hatte, hörte von diesem Tag an auf zu essen. Er wurde krank vor Trauer. Drei Wochen nach seiner Mutter starb auch Flint.

Das kleine Mädchen aus dem Hühnerstall hat seinen Traum gelebt. Mit den Schimpansen im Dschungel von Gombe. Sie hat uns Menschen gezeigt: Wir sind nicht die einzigen Individuen auf der Welt, die eine Persönlichkeit haben.

John F . Kennedy