So abgeklärt ist Italien ein Titelkandidat

16 Jun 2024

Den Betriebsunfall nach 22 Sekunden hat Italien gegen Albanien in beeindruckender Weise weggesteckt. Mit seiner prompten Reaktion auf das Blitz-0:1 hat sich der am Ende 2:1 siegreiche Titelverteidiger im Kreis der EM-Titelanwärter festgespielt.

Italien - Figure 1
Foto kicker

Italienische Jubeltraube nach dem 2:1 durch Nicolo Barella. IMAGO/ZUMA Press

22 Sekunden! Nie zuvor in der Geschichte der EM, die seit 1960 ausgetragen wird, fiel ein früheres Tor in diesem Wettbewerb - ebenso bemerkenswert ist, dass es an diesem Samstagabend im Dortmunder EM-Stadion zwischen Italien und Albanien nicht dem Titelverteidiger gelang, sondern dem Außenseiter.

Schon in der Jugend wird Fußballern eingetrichtert, dass sie einen Einwurf niemals derart naiv ausführen dürfen wie Italiens Außenverteidiger Federico Dimarco kurz nach dem Anpfiff. Wie der reaktionsschnelle Nedim Bajrami den Ball dann am verdutzten Keeper Gianluigi Donnarumma vorbei ins kurze Eck donnerte, war eine Wucht.

Italiens starke Reaktion auf den Schock

Mindestens 50.000 Albanien-Anhänger auf den Rängen des etwa 60.000 Zuschauer fassenden EM-Stadions machten die Partie für ihre Mannschaft zu einem Heimspiel, doch das Team aus dem Stiefel-Staat schaltete nach dem schnellen Schock sofort in einen Modus, der die Italiener zum Favoritenkreis dieses Turniers zählen lässt. Ruhig, abgeklärt, selbstsicher und erdrückend strebte das wie auf Knopfdruck hochgefahrene Ensemble von Trainer Luciano Spalletti nach der perfekten Antwort - sie ließ nicht lange auf sich warten.

Bei der WM 2006 war Italien im Halbfinale gegen Deutschland kurz vor Ende der Verlängerung durch Fabio Grosso (119.) und Alessandro del Piero (120.+1) ein Doppelschlag gelungen, beide Treffer fielen vor der Südtribüne. Im ersten Pflichtspiel Italiens in Dortmund seit jenem WM-Halbfinale vor 18 Jahren gab es gegen Albanien nun einige Parallelen. Wieder fabrizierte die Squadra Azzurra vor dem sonstigen Epizentrum der BVB-Fans einen Doppelschlag, erst durch Alessandro Bastoni (11.), der wie Grosso damals im Anschluss an eine Ecke einnetzte, dann durch Nicolo Barella (16.), der wie del Piero seinerzeit trocken per Direktabnahme abschloss.

Sturmlauf in Hälfte eins, Verwalten in Hälfte zwei

Dass sich Italien gegen Albanien bis zur Pause weitere gute Möglichkeiten erspielte und der heillos überforderte Gegner kaum noch aus der eigenen Hälfte ausbrechen konnte, spiegelte die grundsätzlichen Kräfteverhältnisse dieser beiden Teams exzellent wider. Mit Strippenzieher Barella im zentralen Mittelfeld an der Seite von Jorginho, prägende Titelgewinn-Figur beim Turnier vor drei Jahren, ließ der zweimalige Europameister keine Zweifel mehr an seiner Überlegenheit aufkommen, allerdings übertrieben es die Italiener nach dem Seitenwechsel mit ihrer Verwaltung des knappen Vorsprungs.

Gruppe B, 1. Spieltag

Nur noch bei einem Schuss von Federico Chiesa (60.) tauchte Spallettis Elf gefährlich vor Albaniens Tor auf. Die Italiener, die es am Donnerstag in Gelsenkirchen im zweiten Gruppenspiel mit Spanien zu tun bekommen (21 Uhr, LIVE! bei kicker), können von Glück reden, dass sie für ihre Ästhetik des Erhabenen nicht noch bitter bestraft worden sind. Der Riccardo Calafiori entwischte Joker Rey Manaj fand in der Schlussminute der regulären Spielzeit in Donnarumma seinen Meister. Das Spiel wäre also fast so zu Ende gegangen, wie es begonnen hatte - mit einem Paukenschlag.

Italienische Mannschaft noch in der Findungsphase

Gegen Italien als Titelkandidat spricht, dass dieses Kollektiv gerade mitten in der Findungsphase steckt. Nationalcoach Spalletti, Napolis Meistertrainer von 2023, ist erst seit vergangenem Herbst im Amt, seine offensive Spielidee muss sich erst noch verfestigen, dafür will er eine Reihe junger Spieler anlernen. Natürlich ist Italien bemüht, seinen Titel zu verteidigen, mittelfristiges Ziel ist aber ein erfolgreicher Auftritt bei der WM in zwei Jahren.

Damit das WM-Trauma endlich ein Ende findet. Die jüngsten beiden interkontinentalen Wettbewerbe in Russland 2018 und Katar 2022 hatte Italien verpasst. Wer geboren wurde, als die Azzurri ihr letztes K.o.-Spiel bei einer WM gewannen, steht jetzt kurz vor der Volljährigkeit: Es war das 5:3 im Elfmeterschießen im Finale gegen Frankreich in Berlin am 9. Juli 2006.

Toni Lieto

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