Ein Sieg, der (keine) Hoffnung macht
Sa 19.10.24 | 08:15 Uhr | Von Marc Schwitzky
Im Spiel gegen Eintracht Braunschweig sah es lange nach der nächsten Enttäuschung für Hertha BSC aus. Doch die Gäste machten den Berlinern gleich mehrere Geschenke. Die drei Punkte dürften den Druck senken, doch es bleiben viele Probleme. Von Marc Schwitzky
Hertha BSC hatte am Freitagabend mächtig Druck, drei Punkte gegen schlecht gestartete Braunschweiger waren absolute Pflicht. Zum einen, um die bislang schwache Heimbilanz von nur einem Sieg und gleich drei Niederlagen aufzubessern. Zum anderen, um den Anschluss an die obersten Tabellenplätze in der 2. Fußball-Bundesliga zu halten.
Dementsprechend kann der 3:1-Heimsieg gegen Braunschweig als voller Erfolg gewertet werden. Hertha hat den Drucktest bestanden und kann nun hoffnungsvoll nach oben blicken. Oder?
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Hertha BSC hat die bisherige Heimschwäche überwunden und gegen Abstiegskandidat Eintracht Braunschweig gewonnen. Dabei ging in der Partie lange Zeit wenig bei den Berlinern. Das änderte sich, als Gäste-Torwart Grill über den Ball schlug.
Die Idee ist erkennbar, die Umsetzung mangelhaftHerthas Trainer Cristian Fiél ist deutlich anderer Meinung. "Ich bin nicht zufrieden, weil wir heute Dinge nicht machen, die wir die ganze Woche trainiert haben. Wir haben nicht die richtigen Räume bespielt. Deshalb bin ich heute sauer, weil ich es nicht verstehe." Verärgert und ratlos zeigte er sich nach dem Spiel.
Seine Idee für die Begegnung am Freitagabend war klar. Herthas Viererkette wurde im Spielaufbau zu einer Dreierkette, davor boten sich meist Kevin Sessa und Michal Karbownik als Anspielstationen im Mittelfeld an. Mit dem 3-2-Aufbau, den Fiél vor allem in der Saisonvorbereitung üben ließ, wollte er Überzahl im Zentrum schaffen, "um die Dinge im letzten Drittel vorzubereiten, aber das haben wir heute nicht gut gemacht."
Zwar gelang es Hertha in den ersten 30 Minuten immer wieder, spielerisch in die gegnerische Hälfte vorzudringen, doch sobald die Mittellinie überquert war, wurde das Berliner Spiel ziellos. Knapp 80 Prozent Ballbesitz führten zu keinerlei Torgefahr, weil die Spieler nicht konsequent nach vorne durchschoben, die entscheidenden Wege nicht gingen und so zu wenig klare Anspielstationen im letzten Drittel zur Verfügung standen.
Wie schon in den letzten Partien ließen viele Hertha-Spiele die elementaren Prinzipien des Fiél-Fußballs vermissen. Der auf Ballbesitz geeichte Stil zerfällt in sich, sobald die Bewegungen der Spieler abseits des Balls nicht stimmen – oder schlicht nicht vorhanden sind. Auch gegen ein gut verteidigendes Braunschweig wirkte Herthas Angriffsspiel trotz unzähliger Pässe zahnlos, da die Tiefe mangels Läufe und Mut nicht konsequent bespielt und nachgerückt wurde. Hochtalentierte Spieler wie Sessa oder Ibrahim Maza wirken derzeit irritierend blass. Immer wieder zerschellten die langen Passstafetten am Eintracht-Defensivblock, ohne auch nur einen Hauch Gefahr versprüht zu haben.
"Wir nehmen die drei Punkte, aber werden kommende Woche über Dinge reden müssen, die für unser Spiel grundsätzlich sind", kündigte Fiél frustriert an. "Wenn wir diese nicht umsetzen, wird es schwierig, Spiele zu gewinnen." Sein Team kann diese Vorgaben derzeit nicht umsetzen. Das neu etablierte System ist bereits wieder eingestaubt. Ohne die entscheidenden Läufe und Verschiebungen verkommt das blau-weiße Pass-Ungetüm zur brotlosen Kunst. Nach den ersten 45 Minuten hatte Hertha zwar 67 Prozent Ballbesitz, aber nur fünf ungefährliche Torschüsse abgegeben.
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Hertha BSC will im zweiten Zweitligajahr unbedingt zurück ins Oberhaus. Doch auch unter Neu-Trainer Cristian Fiél kommen die Berliner nicht so richtig in Schwung. Die Faktoren für den Stotterstart sind so zahlreich wie klar. Von Marc Schwitzky
Hertha in ungewohnter RolleZu allem Überfluss gaben die Braunschweiger der "alten Dame" in der 38. Minute eine Lehrstunde darin, wie zielstrebiger Fußball nach vorne aussieht, als sie einen der vielen zu einfachen Ballverluste Herthas schnurstracks in den gefährlichen Raum auf dem rechten Flügel und von dort direkt in den Strafraum beförderten, wo Levente Szabó nur noch einschieben musste. Karo einfach – etwas, das der so verkopft aufspielenden Hertha in der neuen Saison noch ein Rätsel ist.
Die Ernüchterung nach dem ersten Durchgang war groß. Bis dahin sah alles danach aus, als würde sich die hochveranlagte, aber schlampig aufspielende Berliner Truppe einmal mehr selbst ein Bein stellen – auch weil sie den Spielplan des Trainerteams nicht umgesetzt hatte.
Hertha befand sich in der zweiten Halbzeit jedoch in der ungewohnten Rolle des Nutznießers gegnerischer Slapstick-Einlagen. In den letzten Wochen war es der Hauptstadtklub, der höchst spendabel Geschenke an Gegner verteilte, doch in der 50. Minute und 70. Minute sorgten zwei Leichtsinnsfehler Braunschweigs für die Überzahl und plötzliche 2:1-Führung Herthas. Zwei Elfmeter, die das Spiel vollständig auf den Kopf stellten und Hertha auf einmal oben trieben ließen.
In der 89. Minute macht Joker Florian Niederlechner mit dem 3:1 noch den Deckel auf die Partie und Hertha zum glücklichen Gewinner des Spiels. Auch in jener Szene profitierten die Hausherren von einem individuellen Fehler – ein Braunschweiger hatte am eigenen Strafraum schläfrig den Ball hergegeben. "Wir haben das Spiel heute mehr verloren als Hertha es gewonnen hat", fasste Braunschweigs Trainer Daniel Scherning die Begegnung prägnant zusammen.
Doch waren die Berliner Tore am Freitagabend tatsächlich nur Produkte reines Glücks und Hertha der "Hanns guck-in-die-Luft" eines verrückten Spielverlaufs. "Die erste Aktion in der zweiten Halbzeit geht dann genau in den Raum, in den wir wollten - und dann kommt es zum Elfmeter", entgegnet Fiél nach Abpfiff. Denn: Hertha hatte bei allen drei eigenen Treffern zwar das Glück, dass die Braunschweiger Geschenke verteilten, allerdings provozierten die Hauptstädter eben jene Fehler durch das deutlich konsequentere Bespielen der vom Trainer gewünschten Räume und dem aggressiveren Nachrücken nach vorne. So wurde das – zugegebenermaßen riesige – Glück ein Stück weit erzwungen.
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Es sollte eine wichtige Erkenntnis für die Mannschaft sein, dass Fiéls Ideen bei konsequenter Umsetzung tatsächlich zum Erfolg führen können und es sich lohnt, die Konzentration und Laufarbeit konstant aufrechtzuerhalten. Ebenso sollte Herthas Trainer Lehren aus dem Braunschweig-Spiel und den letzten Wochen gezogen haben. Beispielsweise, dass Derry Scherhant als alleiniger Mittelstürmer überfordert zu sein scheint und erfahrene Strafraumstürmer wie Florian Niederlechner oder Smail Prevljak deutlich verlässlicher ihre Aufgaben erfüllen – wenn auch schmuckloser.
Auch die Zusammensetzung des zentralen Mittelfeld könnte in den kommenden Wochen eine andere sein, da einzelne Spieler nicht die nötige Ernsthaftigkeit und Cleverness an den Tag legen, die den Fiél’schen Ansatz aus der grauen Theorie in die erfolgreiche Praxis überführt. Herthas neuer Trainer wirkt bislang wie ein fußballerischer Überzeugungstäter, der sein Idee von Fußball zu 100 Prozent umsetzen will und dafür gewissen Spielern, denen er spielerisch am meisten zutraut, sehr viel Geduld schenkt. Jener Idealismus mag imponieren, doch der Saisonstart und die zweite Halbzeit gegen Braunschweig legen nahe, dass Hertha in seinem derzeitigen Entwicklungsstatus und dem zur Verfügung stehenden Kader noch mehr Pragmatismus benötigen könnte. Mehr Pflicht, weniger Kür. Weniger Potenzial und mehr tatsächlich erbrachte Leistung.
Mit dem 3:1-Erfolg hat sich Hertha tabellarisch etwas freigeschwommen, doch aufgrund der schwachen Leistung keinen Druck ablegen können. Die Bewährungsprobe von Trainer und Mannschaft hält weiter an.
Sendung: rbb inforadio, 18.10.2024, 12 Uhr