Haushaltssperre: Die Ampel hat den Schuss nicht gehört
Die Bundesregierung weiß nicht, wie sie das 60-Milliarden-Loch stopfen soll, das durch das KTF-Urteil entstanden ist. Im Raum steht jetzt eine Notlagen-Strategie. Doch die wäre rechtlich höchst angreifbar. Ein Kommentar.
Der Respekt der Legislative vor der Judikative ist bei der Ampelkoalition ein reines Lippenbekenntnis. Kaum haben Deutschlands höchste Richter die Taschenspielertricks der Bundesregierungen als solche entlarvt und mit deutlichen Worten als „nichtig“ und „verfassungswidrig“ bewertet, bereitet die Regierung einen neuen Trick vor, der ebenfalls den Geruch der Rechtswidrigkeit an sich trägt. Da neue Steuern wie der von der SPD vorgeschlagene „Klima-Soli“ mit der FDP ebenso wenig zu machen sein dürften wie eine höhere Einkommen- oder Erbschaftsteuer, sinnt Christian Lindner auf einen Ausweg.
Die Lage ist kompliziert. Zwar würde der FDP-Chef Lindner gerne sparen und dabei den wuchernden Sozialetat etwas zurechtschneiden. Aber der Bundesfinanzminister Lindner weiß, dass er damit weder bei den Sozialdemokraten noch den Grünen durchkommen kann. Also wird in seinem Ressort ein dritter Weg vorbereitet, der das schlingernde Koalitionsschiff in ruhigere Gewässer führen soll: Die Rede ist von der „Notlage“. Wird eine solche regierungsamtlich festgestellt, könnte die zunehmend verhasste Schuldenbremse erneut ignoriert werden und der Koalition einen größeren Spielraum verschaffen.
Zwar gibt es in diesem Jahr weder eine Naturkatastrophe noch eine Weltfinanzkrise oder Pandemie. Aber in Karlsruhe ist doch ein vernichtendes Urteil gesprochen worden! Und dieses Urteil ist, folgt man der Argumentation von Lindners Berater Lars Feld, offenbar so unvorhergesehen über die Koalition gekommen wie die Flut über das Ahrtal. Und genau wie die Flut hat das Urteil was verursacht? Na klar – eine Notlage!
Man muss sich die Essenz dieses Gedankenkonstrukts einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein höchstrichterliches und außerdem überdeutliches Urteil, mit dem ein von der Regierung herbeigeführter rechtswidriger Zustand beendet wird, soll jetzt als Auslöser einer unvorhergesehenen Notlage herhalten, auf deren Grundlage man unbeeindruckt eine Finanzpolitik fortzusetzen gedenkt, die von Karlsruhe gerade erst als Verfassungsverstoß bewertet wurde. Offenbar hat die Regierung den Schuss nicht gehört. Fehlt nur noch, dass die AfD die Gunst der Stunde nutzt, gegen die Feststellung der „Notlage“ klagt und – wofür vieles spricht – auch noch gewinnt. Dann ist die Regierung wirklich in Not.
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