Harry Kane beim FC Bayern: Zwischenbilanz nach gut 100 Tagen
Geht das gut mit dem FC Bayern München und Torjäger Harry Kane, fragten sich viele. Erste Bilanz nach gut 100 Tagen: Es könnte kaum besser laufen.
Sie hatten es sich zu leicht vorgestellt. Wenn Robert Lewandowski eben geht, wird es der FC Bayern auch ohne ihn hinkriegen, lautete die Einschätzung. Doch relativ schnell in der vergangenen Saison mussten die sportlich Verantwortlichen in München einsehen, dass es doch nicht ohne ihn geht. Ohne ihn, den echten Neuner. Deshalb sind die Bayern-Bosse in diesem Jahr "all-in gegangen", wie Jan-Christian Dreesen, der Vorstandsvorsitzende und Verhandlungsführer während dieses im August sehr komplizierten Deals, mehrmals betont hatte, weil im Verein klar war: Der deutsche Rekordmeister braucht zwingend wieder einen hochkarätigen Mittelstürmer.
Mehr als 100 Millionen Euro inklusive möglicher Bonuszahlungen sollten die Münchner investieren. In Harry Kane, den Kapitän der englischen Nationalmannschaft, der bislang in seiner Karriere nur bei Tottenham Hotspur gespielt hatte. Geht das gut? Fragten sich nicht wenige. "Das ist der erste Vereinswechsel für Harry. Er verlässt die Insel, geht in eine neue Liga, geht in eine neue Stadt. Das ist ja nicht nur für ihn, sondern auch für sein Umfeld - er ist Familienmensch - ein riesengroßer Schritt", weiß Trainer Thomas Tuchel: "Für mich war immer klar, was er kann. Es gab keinen Zweifel, dass er das, was er da tut - Tore schießen, Tore vorbereiten - auf jedem Fußballplatz der Welt kann."
100 Tage sind seit Kanes Ankunft nun vergangen - und die Antwort ist derzeit recht simpel: Ja, gerade geht es, wie Tuchel auch sagt, zu 100 Prozent gut. Es könnte für ihn besser kaum laufen.
Lewandowskis Torrekord gerät in GefahrSchon 21 Treffer in wettbewerbsübergreifend 15 Partien erzielte der 30-Jährige, sieben weitere bereitete er vor. Das macht ihn in der Bundesliga (17/5) und in der Champions League (4/2) zum aktuell jeweils besten Scorer. Weshalb schon die ersten Prognosen aufkommen, dass der Lewandowski-Rekord von 41 Ligatreffern womöglich in Gefahr geraten könnte. Aber das sei "noch zu weit weg", findet Kane, nachdem er zuletzt gegen Heidenheim (4:2) ebenso wie der Pole einen Tag später für Barcelona doppelt getroffen hatte.
"Ich muss fokussiert bleiben, will weiter treffen und dem Team helfen", schob der Engländer pflichtbewusst hinterher und versprach: "Wenn ich im April nah dran bin, werde ich es versuchen." Klingt nach einer sanften Kampfansage, quasi. Wenngleich dies vorerst zweitrangig ist -viel mehr zählt für die Münchner, dass sie wieder einen Stürmer gefunden und verpflichtet haben, der Tore garantiert. Und gerade dabei ist, die riesigen Fußstapfen, die Lewandowski nach seinen acht Jahren beim FC Bayern hinterlassen hat, nicht nur auszufüllen, sondern sie mit seinen mal blauen, mal weißen Skechers-Tretern sogar zu verwischen. Die beiden sind sich ähnlich - und doch verschieden.
Eine Saison lang, 2022/23, konnten die Bosse dabei zusehen, dass es ohne echten Neuner zwar auch mal gutgehen kann, weil die individuelle Qualität da ist, aber dass einfach ein zentraler Baustein einer Bayern-Mannschaft fehlt. Daran konnte Julian Nagelsmanns Systemwechsel nichts ändern und auch das zwischenzeitliche Hoch von Eric Maxim Choupo-Moting nichts. Thomas Müller ist trotz all seiner Qualitäten kein klassischer Mittelstürmer, Serge Gnabry auch nicht; und Sadio Mané - dessen Verpflichtung vor gerade mal 17 Monaten als Sensation gefeiert wurde und über den heute so gut wie niemand mehr ein Wort verliert - war dies noch weniger.
Also flog eine kleine Bayern-Delegation noch vor Saisonende nach London, um Harry Kane, das Eigengewächs und Aushängeschild von Tottenham Hotspur, vom FC Bayern zu überzeugen. Erste Kontakte nach London gab es schon im Frühjahr, auch wenn Uli Hoeneß zu dieser Zeit, einen Monat vor Tuchels Amtsantritt, noch meinte: "Ich halte diesen Transfer für völlig gaga." Doch diese Meinung hat sich zügig geändert. Und so legte sich die gesamte Kompetenz und Berühmtheit beim FCB ins Zeug, um diesen Spieler vom Projekt Bayern München zu überzeugen.
Wir haben den englischen Kapitän aus England herausgeholt. Da können wir uns schon noch eine ganze Weile auf die Schulter klopfen, das ist schon eine große Nummer
Diesen Profi, der in einer Premier League ohne Erling Haaland mit 30 Treffern für das achtplatzierte (!) Tottenham relativ sicher Torschützenkönig geworden wäre. Ein Spieler, der drauf und dran war, Alan Shearer zu übertrumpfen und die meisten Premier-League-Tore aller Zeiten zu erzielen. Oder, um es mit Trainer Tuchels Worten auszudrücken: "Wir haben den englischen Kapitän aus England herausgeholt. Da können wir uns schon noch eine ganze Weile auf die Schulter klopfen, das ist schon eine große Nummer."
Sportlich, aber in erster Linie auch menschlich. Übereinstimmend berichten Spieler und Vereinsverantwortliche von der Bodenständigkeit Kanes. Für Fan-Autogramme oder Fotowünsche nimmt er sich ausgiebig Zeit, sofern sie bleibt. An der Säbener Straße bestreitet er den Arbeitsalltag ohne Allüren - das kleine ABC der guten Kinderstube ist ihm bestens bekannt. Was ihn automatisch zu einem Vorbild für Nachwuchsprofis macht und ihn bei seiner zusätzlichen fußballerischen Klasse in den Kreis der Führungsspieler hebt. Von Trainer Tuchel wird er daher von Tag eins an über aller Maßen geschätzt und gefördert, das Spiel mehr und mehr auf ihn zugeschnitten.
Sportlich sollte es mit dem Bundesligaauftakt auch gleich richtig losgehen für ihn: Tor und Vorlage in Spiel eins, Doppelpack am 2. Spieltag - und es sollte (bisweilen) so weitergehen. Obwohl Lewandowski meinte, "dass das erste Jahr für Kane sicher nicht leicht wird, die Umstellung ist groß", sein Nachfolger werde Zeit brauchen, "den FC Bayern zu verstehen". Bisher klappt’s ganz gut für die neue Nummer 9 beim FCB, wenngleich die Saison noch lang ist, denn: Während Lewandowski in seiner historischen 41-Tore-Saison nach elf Spieltagen bei 13 Treffern stand, hat Kane jetzt schon 17 und damit genauso viele wie Bayerns bester Torschütze der Vorsaison, Gnabry, in allen Wettbewerben.
"Das ist mein bester Start überhaupt", freut sich Kane. Und das Verrückte dabei ist: Er sieht sich noch gar nicht richtig angekommen in der bayerischen Landeshauptstadt. Die Haussuche verläuft etwas holpriger als gedacht, soll sich aber noch vor dem Jahreswechsel klären. Trotzdem ist schon jetzt zu sehen, welchen Wert Kane für den FC Bayern auch unabhängig von den Scorerwerten hat.
Leon Goretzka lobt, wie der Angreifer "seine Mitspieler in Szene setzt, er reißt Räume auf, kann selbst auch den Ball in die Tiefe spielen". Und das mit großem Erfolg: Sieben angekommene Steckpässe sind schon jetzt zwei mehr, als Lewandowski in seinem letzten Jahr bei Bayern hatte. Besonders mit Leroy Sané harmoniert Kane, legte seinem Partner bereits drei Tore auf - Sané wiederum vier für den Engländer. Es lässt sich also ziemlich gut an, in der Premier League hieß dieser kongeniale Partner Heung-Min Son, die beiden legten sich gegenseitig 47 Tore auf - Premier-League-Rekord.
Was Kane von Lewandowski unterscheidetKane verzeichnet weniger Ballkontakte im Strafraum (15,5 Prozent) als Lewandowski (21), spult dafür mehr Kilometer pro Spiel ab (10,43 gegenüber 9,88), weil er sich immer wieder tief in der eigenen Hälfte in den Spielaufbau einklinkt. Lewandowski war eine sehr stabile Anspielstation, er konnte die Bälle selbst gegen drei Gegenspieler festmachen und wieder zum Kollegen ablegen. Im letzten Drittel bewegte sich der Weltfußballer von 2021 und 2022 häufig in Richtung gegnerisches Strafraumeck, ehe er im Zusammenspiel mit Müller in die Gefahrenzone drang.
Kane hält sich zentraler auf, möchte früher ins Spiel eingebunden sein, es schnell machen. Wie Lewandowski gelingt es auch ihm an der Mittellinie, die Zuspiele anzunehmen, sie abzuschirmen, das Team in Ballbesitz zu halten. Dies ist eine Komponente, die den Bayern in der Vorsaison sehr oft fehlte. "Da muss man auch die Bälle mal nach vorne chippen können, da kann er seinen Körper gut einsetzen", lobt Manuel Neuer, der den Vergleich mit Lewandowski so sieht: "Es hängt natürlich von unserem Spiel ab, was gewünscht ist und wie wir versuchen, hinten rauszuspielen; was gefordert ist vom Trainerteam. Da ist es so, dass Harry kurz kommen und in diese Räume gehen soll. Das ist von Trainer zu Trainer unterschiedlich und auch von den Spielertypen immer ein bisschen anders." Derzeit funktioniert es gut mit Kingsley Coman, Musiala und Sané, Letzterer profitiert von Kanes uneigennützigem Spiel besonders.
Er ist fantastisch in der Box. Ihn kann man immer anspielen.
Manuel Neuer über Harry Kane
Und wenn Kane dann da auftaucht, wo man ihn am ehesten vermutet, in der sogenannten Box, "ist er natürlich fantastisch; ob mit rechts, mit links, mit dem Kopf. Ihn kann man immer finden und anspielen", weiß Kapitän Neuer, "er ist sehr präsent". Müller versichert zudem: "Wenn er in der Nähe des Strafraums oder innerhalb zum Abschluss kommt, dann ist die Gefahr schon groß, dass der Ball auch mal drin ist." Was natürlich genauso auf Lewandowski, Müllers damaligen Partner, zutraf, wenngleich der Pole in seiner 41-Tore-Saison mehr Schüsse pro Tor brauchte (4,6) als Kane (2,9) momentan. Kane trifft alle 56 Minuten, während Lewandowski in der Rekordsaison 2020/21 pro Tor 60 Minuten benötigte.
Mit zwei Kontakten zum ZielApropos Abschluss: Beim Vergleich der beiden Neuner lohnt noch einmal der Blick auf die wenigeren Ballkontakte, die Kane im Strafraum hat. Nutzte der aktuelle Barca-Stürmer häufig seine Physis, ob bei Kopfbällen oder in Dribblings, bevor er auf die Kiste knallte, gleicht Kane die körperlichen Defizite gegenüber Lewandowski mit einer wohl noch präziseren Technik aus. Für nur zwei seiner 21 Saisontore benötigte der Engländer drei Ballkontakte - Annahme, Mitnahme, Abschluss: beim 1:0 gegen Heidenheim und beim 4:0 in Dortmund. Die restlichen 19 Treffer erzielte er direkt oder mit höchstens zwei Kontakten. Heißt: Der erste Kontakt Kanes, ob bei einer Ballannahme, -mitnahme, bei Pässen oder Abschlüssen, ist herausragend gut und spart ihm viel Zeit.
Entscheidend für den Mannschaftserfolg ist, dass die Münchner wieder diesen Zielspieler haben, der Verantwortung übernimmt, dem gesamten Auftritt der Münchner mehr Struktur und Orientierung verschafft. So stehen auf der einen wie auf der anderen Seite des Feldes mit Neuer und Kane wieder zwei Persönlichkeiten - so wie es einst mit Lewandowski auch war. Der Unterschied: Der Pole kam als 25-Jähriger, war deutlich jünger als Kane und musste sich entwickeln. Kane hingegen ist jener fertige Stürmer, zu dem Lewandowski erst bei den Bayern heranreifte und was in der Kür zum Weltfußballer gipfelte. Den Legendenstatus beim FC Bayern hat er erreicht, nun verzückt sein Nachfolger die Liga. Vielleicht auch wegen Lewandowski - wäre er nicht gewesen, wüsste der FC Bayern nicht um die höchsten Ansprüche auf dieser Position.
Thomas Böker, Mario Krischel, Georg Holzner