Schach-WM: Dommaraju Gukesh kann Ding Lirens Blackout nicht ...

2 Tage vor
Schwere Vorwürfe aus Russland Wunderkind Gukesh kann Dings aberwitzigen WM-Blackout gar nicht glauben

13.12.2024, 08:55 Uhr

Gukesh - Figure 1
Foto n-tv NACHRICHTEN

Ein unglaublicher Fehler von Titelverteidiger Ding Liren entscheidet die Schach-WM. Der erst 18 Jahre alter Inder Dommaraju Gukesh krönt seine Blitzkarriere. Den entscheidenden Moment im 14. Duell kann der neue Champion zunächst gar nicht begreifen.

Dommaraju Gukesh schaut aufs Brett und kann nicht begreifen, was er da sieht. Was da gerade passiert ist. Im 14. Duell der Schach-Weltmeisterschaft unterläuft seinem Gegner, dem in diesem Moment noch amtierenden Weltmeister Ding Liren ein gigantischer Fehler. "Erst als ich am Brett sah, wie er sich freute, habe ich gemerkt, dass ich Mist gebaut habe", sagte der 32-Jährige nach dem für ihn verhängnisvollen 55. Zug.

Ding wollte wie so oft in diesem WM-Duell das Remis erzwingen. Er hätte sich damit in den Tiebreak gerettet, in die schnellen Varianten. Im vergangenen Jahr gewann er so gegen Jan Nepomnjaschtschi den Titel. Weil Ding als der intuitivere Spieler gilt und Gukesh eher über seine ausgeprägte Kombinationsgabe kommt, wäre der Chinese wahrscheinlich der leichte Favorit im finalen Showdown gewesen. Und eigentlich sah alles nach Remis aus.

Im Livekommentar bezifferte Bundestrainer Jan Gustafsson die Chance auf ein Remis im Endspiel lang auf mindestens 70 Prozent, eher mehr. Ding hatte mit den weißen Figuren keine Gelegenheit, zu gewinnen. Gukesh demnach nur eine kleine. Aber er nutzte sie, weil sein Gegner sich diesen unfassbaren Blackout erlaubte. Er setzte den Turm ohne Not auf ein Feld, wodurch Gukesh ermöglicht wurde, Türme und Läufer vom Brett zu nehmen - so gab es für Ding kein Entkommen mehr. Er gab auf, reichte seinem Gegenüber die Hand.

"Bester Moment meines Lebens"

Als er den Fehler von Ding erkannt habe, "war das vielleicht der beste Moment meines Lebens", verriet Gukesh. In einem Video, in dem die Kamera neben dem Brett nur auf ihn gerichtet ist, ist zu sehen, wie er für Momente überhaupt nicht begreift, was da gerade vor sich geht. Ja, der Turm-Zug des Chinesen von f4 auf f2 macht ihn, den 18-Jährigen, in wenigen weiteren Zügen zum Weltmeister. Gukesh erlaubt sich ein flüchtiges Lächeln, dann volle Konzentration. Übersieht er etwas, das Ding sieht. Tappt er womöglich in eine Falle, wenn er jetzt sofort zugreift? Er nimmt die Hände an die Stirn, bläst die Backen auf. Kleine Übersprungshandlungen.

Aber nein, da ist nichts. Keine Falle, nur ein gigantischer Fehler. Gukesh tauscht Turm und Läufer, steht auf, tigert in dem Bereich hinter dem Brett umher. Zweimal wird der König noch bewegt, Gukesh weiß nun, es passiert nichts mehr. Ding atmet noch einmal tief durch, reicht ihm die Hand. Der alte Weltmeister gratuliert dem neuen. Im Saal bricht Jubel aus. Indien feiert seinen neuen Schach-Helden. Dort, so berichtete ntv.de-Experte Georgios Souleidis, sei die WM ein Straßenfeger. Vergleichbar mit legendären Spielen von Boris Becker einst.

Ex-Champion Viswanathan Anand, Weltmeister von 2007 bis 2013, hatte diesen Boom ausgelöst, der bis heute im Land anhält. Der Triumph nun setzt der erstaunlichen Karriere des zum Wunderkind gepushten Gukesh früh die Krone auf. Mit sieben Jahren lernte er das Schachspielen, fünf Jahre später war er bereits Großmeister, der zweitjüngste, den es je gab. Jetzt ist er der jüngste Weltmeister aller Zeiten. "Ich habe von diesem Moment seit über zehn Jahren geträumt", sagte er, "ich lebe meinen Traum und möchte zuerst Gott danken."

"Ein trauriges Ende der WM"

"Was für eine unglaubliche Leistung", jubelte die Zeitung "The Times of India" nach dem Triumph von Gukesh. Es sei ein "stolzer Moment für das Schach, ein stolzer Moment für Indien", schrieb Anand bei X. Nicht ganz so euphorisch blickt Souleidis auf den Erfolg. Sein Fazit der Weltmeisterschaft ist: "Ein trauriges Ende der WM." Nicht der oft sehr nervöse und ungenau spielende Gukesh hat diesen Titel gewonnen, sondern Ding hat diesen WM-Kampf verloren. Weil er mehrmals seinem Gegenüber die Siege geschenkt hat. "Trotzdem aber natürlich Glückwunsch an Gukesh, der Historisches geleistet hat."

Für Ding endet das Turnier extrem bitter. Entgegen aller Prognosen hatte sich der Chinese erstaunlich gut in den Tagen von Singapur präsentiert. Nach seinem WM-Titel im vergangenen Jahr litt er an schweren Depressionen, ließ sich im Krankenhaus behandeln. Zurück am Brett gelang ihm lange gar nichts, er verlor alle Spiele. Fast alle Experten waren sich einig, dass er bei diesem Turnier gnadenlos untergehen würde. Aber dann zeigte er sich erstaunlich resilient. In manchen Momenten blitzte sein altes Genie auf, etwa in Partie zwölf, als er unter Druck großartig aufspielte. Doch konstant zu alter Form fand er nicht. Nach der finalen Niederlage gestand er in der Medienrunde, über seinen riesigen Fehler "immer noch geschockt zu sein."

"Verhalten des Chinesen war extrem verdächtig"

Und er musste sich hernach auch noch schwere Vorwürfe gefallen lassen. Andrei Filatow, Präsident des russischen Schachverbandes, verdächtigt den Chinesen, die Niederlage mit seinem folgenschweren Turm-Zug bewusst herbeigerufen zu haben. Warum er das getan haben sollte, sagte Filatow indest nicht. "Das Ergebnis der letzten Partie hat Profis und Schach-Fans erstaunt. Das Verhalten des Chinesen in der entscheidenden Phase war extrem verdächtig und erfordert eine separate Untersuchung der FIDE", zitiert ihn die Nachrichten-Agentur Tass. "Für einen Spieler dieser Kategorie ist es schwer, die Position zu verlieren, die Ding hatte. Die Niederlage des Chinesen wirft eine Menge Fragen auf und wirkt absichtlich."

Indirekte Rückendeckung erhielt Filatow von Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik. Er warf Ding zwar keine Absicht vor, postete auf X aber: "Kein Kommentar. Traurig. Das Ende des Schachspiels, wie wir es kennen. Nie wurde ein WM-Titel durch einen kindischen Ein-Zug-Fehler entschieden." Unbestritten ist, dass Dings später Fehler ein schwerwiegender und ungewöhnlicher war. Gleichwohl war sich ein Großteil der Schach-Elite in der Bewertung der Stellung einig. Unter anderem Hikaru Nakamura bezeichnete diese als gefährlich für Ding und erklärte in seinem Live-Stream, dass perfektes Spiel nötig sei, um eine Niederlage zu verhindern. Der Fehler im 55. Zug habe allerdings auch ihn "geschockt", gab der US-Amerikaner zu.

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