Neues Album, neuer Film, neues Buch: Gianna Nannini wird siebzig

Gianna Nanninis Beitrag gegen die Altersdiskriminierung: «Der Tod ist obligatorisch, das Alter fakultativ»

Gianna Nannini - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Die italienische Musikerin wird siebzig, gibt ein neues Album heraus und ist in Italien gerade auf allen Kanälen präsent. Am Telefon mit Italiens Rocksängerin Nummer eins.

Gianna Nannini fühlt sich wohl in ihrer Seele.

Sony Music

Da ist sie, diese Stimme. «Ciao, sono Gianna», sagt sie ins Telefon. Und man meint, etwas von diesem leichten Kratzen zu hören, das ihre Songs so unverkennbar gemacht hat. Zwanzig Minuten hat uns das Management eingeräumt.

Sie verliert keine Zeit mit unnötigen Präliminarien, die erste Frage ist noch nicht ausformuliert, da legt sie schon los, in atemberaubendem Tempo, mit einem leicht toskanischen Akzent, der das «c» jeweils nur haucht oder verschluckt. Gianna Nannini, kein Zweifel, ist in Form. Mit Pilates – «dem richtigen, harten», wie sie es nennt – und Triathlon hält sie ihren Körper in Schuss.

Seit Tagen ist sie in Italien auf allen Kanälen präsent. Sie war gerade bei «Che tempo che fa» zu Gast, der Talkshow, wo sich auch schon einmal der Papst für ein Schwätzchen zuschaltet, sie ziert das Cover der italienischen «Vanity Fair», die grossen Zeitungen bringen Interviews, ihre Social-Media-Accounts quellen über. Es herrscht «Nanninimania» –und das in einem Land, das in höherer Kadenz als anderswo Stars und Sternchen hervorbringt, die rasch wieder verglühen.

Zu Gast bei «Che tempo che fa», einer der beliebtesten Talkshows Italiens.

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1983 als Schlüsseljahr

Doch Gianna Nannini, die im Ausland wohl bekannteste Rocksängerin Italiens, ist von anderem Kaliber. Sie gehört auch in ihrer Heimat immer noch zur ersten Garde. Wenn sie etwas sagt oder tut, hat sie die öffentliche Aufmerksamkeit.

Als vor zwei Jahren eine Frauenkandidatur für das Staatspräsidium zur Debatte stand, meldete sie sich als offizielle Kandidatin für das höchste Amt. Als sie mit 56 Jahren Mutter wurde, beschäftigte dies das Land wochenlang – «es gab wüste Beschimpfungen gegen mich», sagt sie. Als sie 1979 das Album «California» herausgab, auf dessen Cover die Freiheitsstatue abgebildet war mit Dildo statt Fackel in der Hand, meldete sich ihr Vater zu Wort, ein bekannter Zuckerbäcker aus Siena, und forderte seine Tochter öffentlich auf, ihren Nachnamen zu ändern.

Wilde Zeiten, wilde Gesten: Es gäbe zahlreiche weitere Episoden zu erzählen (mit ihrem Vater hat sie sich später wieder versöhnt). Und nun wird diese Frau, man glaubt es kaum, siebzig. 2024 ist ein Nannini-Jahr: der runde Geburtstag am 14. Juni, eine grosse Tournee, die am 24. November in Genf startet und sie in die grossen Hallen Europas bringt, ein neues Album, das soeben auf den Markt gekommen ist, ein Buch und ein Film auf Netflix, der ihre jungen Jahre zum Thema hat.

Ist sie an einer Weggabelung angekommen? Warum diese geballte Ladung? Spürt sie das Älterwerden? Ist es Zeit für eine (Zwischen-)Bilanz? «Nein, überhaupt nicht», antwortet sie, «ich bin ja erst 41.»

Wie bitte? 41?

«Ja, so ist es», sagt sie und amüsiert sich darüber, dass es dem Journalisten am anderen Ende der Telefonleitung kurz die Sprache verschlagen hat. 1983 wäre dann ihr Geburtsjahr, «1983» heisst auch das erste – ausgesprochen rockige – Lied ihres neuen Albums. Es ist der Schlüssel zum Verständnis ihrer Koketterie mit dem Alter.

«Der Tod ist obligatorisch, das Alter ist fakultativ», singt sie darin – und wehrt sich damit gegen vorschnelle Zuschreibungen. «Ich sage das nicht, weil ich jung wirken will oder weil ich Angst vor dem Altwerden habe», erklärt sie, «meine Falten sind mir völlig egal.» Man könne aber auch mit zwanzig so alt sein wie mit achtzig.

Aber erst wenn man sich von solchen Ziffern löse, könne man sich richtig frei fühlen, frei, das zu tun und zu lassen, was man für richtig halte. «Es ist mein Beitrag gegen die Altersdiskriminierung.»

Fussballhymnen und Krisen

Gianna Nannini hat davon reichlich Gebrauch gemacht – von der Freiheit: die frühe Flucht aus dem elterlichen Betrieb, ihr politischer Aktivismus gegen Atomversuche und für Umweltschutz, der Studienabschluss mit vierzig in Literaturwissenschaft und Philosophie (Thema: Der Körper in der Stimme), das Kind mit 56, die Heirat 2010 mit ihrer langjährigen Partnerin.

Um Konventionen hat sie sich noch nie geschert – und sich gleichzeitig nie davon abhalten lassen, massentaugliche Hits zu produzieren. «America», «Latin Lover», «Fotoromanza», «Bello e impossibile», «I maschi» – das sind allesamt Titel, die von Generationen von Fans auswendig gesungen werden und bei vielen romantische Erinnerungen an das Sehnsuchtsland Italien auslösen. «Un estate italiana», gesungen zusammen mit Edoardo Bennato, wurde 1990 zur Hymne der Fussballweltmeisterschaft in ihrer Heimat.

Aber zurück zu 1983, Gianna, was ist damals wirklich passiert? «Ich geriet in eine tiefe Krise», antwortet sie. Nach den ersten Erfolgen habe sie nicht mehr gewusst, wo ihr der Kopf stand. «Ich schaffte es nicht mehr, mit mir selbst zu kommunizieren, hatte einen richtigen Zusammenbruch.»

Gianna taucht ab – und kommt wieder zu sich. «Ich bin 1983 geboren, ohne Geschlecht», heisst es in besagtem Lied. Wie sie das meine? «Wörtlich», antwortet sie, «genauso, wie ich es singe.» Sie habe Frauen und Männer geliebt. Diese Einsicht, vielleicht auch: dieses Eingeständnis, steht am Anfang. Für die Rocksängerin fängt jetzt ein neues Leben an, nun fühlt sie sich wohl in ihrer Seele – «ora sono nell’anima», wie sie es formuliert.

«Io voglio te» – einer der neuen Songs aus dem neuen Album.

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So heisst auch ihr neues Album, «Sei nel l’anima» – ein grammatisch eigentümlich formulierter Titel, mit einem bewussten Abstand zwischen Präposition und Artikel. Damit solle die Aufmerksamkeit auf das Wort «anima» gelenkt werden, erklärt Nannini. «Anima» stehe für «Soul» und damit für jene musikalische Welt, in der sich das Album ansiedle. Sie habe ihren Gesang mit Soul und Blues, Etta James, Janis Joplin und Otis Redding entwickelt. Gleichzeitig habe sie gemerkt, dass sie ihrer «mediterranen Seele» folgen müsse.

Das Kratzen ist noch da

Das neue Album zeugt präzis von diesem Credo. Da ist nichts von einem Alterswerk oder von einem schlappen «Best-of». Man spürt eine Leidenschaft, die ungebrochen ist. Auch das bedeutet «Anima»: Texte, die aus der Seele kommen, von Liebe, Sehnsucht, Sinnlichkeit, Trauer, Freude handeln – kurzum: von den ganz grossen Gefühlen. Und wo ist das Politische in diesen Liedern? «Ich glaube mehr an Taten und Gesten, weniger an das politische Geschwätz», sagt Nannini und liefert damit eine Erklärung dafür, dass das neue Album textlich merkwürdig wenig mit unserer Zeit und Gegenwart zu tun hat.

Heisst alterslos eben auch zeit- und geschichtslos? Distanziert? Wolkig? Man hätte gern noch mit ihr darüber geredet, aber das Zeitlimit für das Telefonat lässt eine solche Vertiefung nicht zu. Ihre Stimme hingegen, das steht fest, ist stark wie eh und je, das Kratzen ist noch da. Und viele der neuen Songs sind sehr eingängig und werden sich auch in den grossen Hallen bewähren.

Dorthin kehrt sie ab November zurück, erst in die Schweiz (auf die Premiere in Genf folgt das Konzert im Hallenstadion in Zürich), dann nach Deutschland, schliesslich nach Italien, wohin sie – so viel Altersmilde ist dann doch – wieder zurückgekehrt ist, nachdem sie jahrelang in London gelebt hat, weil man dort angeblich mehr von ihrer Art, Musik zu machen, verstanden habe.

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