Edzard Reuter: 96 Jahre alt wurde er. Und blieb doch immer der Sohn
Er war ein mächtiger Wirtschaftsboss. Mehr als die Arbeit prägte sein Leben aber sein Vater, der ehemalige Bürgermeister von Berlin. Ein Nachruf auf Edzard Reuter Von Christoph Amend
30. Oktober 2024, 11:29 Uhr
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Der Sohn eines berühmten Vaters bleibt immer der Sohn, auch wenn er sich selbst einen Namen gemacht hat, eine lange Karriere hinter sich hat, Erfolge und Misserfolge, längst die Rente genießt. Das ging mir durch den Kopf, nachdem ich Edzard Reuter, den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden von Daimler-Benz, 2001 mit meinem Kollegen Rainer Hank interviewt hatte, für den Tagesspiegel. Damals war Reuter 73 Jahre alt und erinnerte sich ganz genau, wie das war, als er in Berlin neben seinem Vater stand, 1948 vor dem Reichstag, als Ernst Reuter seine Rede hielt, die Geschichte schreiben sollte.
"Ihr Völker der Welt", sagte Ernst Reuter, der Regierende Bürgermeister der Stadt, "ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt! Es gibt nur eine Möglichkeit für uns alle: gemeinsam so lange zusammenzustehen, bis dieser Kampf gewonnen, bis dieser Kampf endlich durch den Sieg über die Feinde, durch den Sieg über die Macht der Finsternis besiegelt ist." Ihm sei in diesem Moment bewusst gewesen, erzählte Edzard Reuter uns, "dass es nun auf meinen Vater ankam. Es ging ja nicht darum, irgendwelches Pathos zu verbreiten, sondern zu verhindern, dass die westlichen Alliierten die Stadt fallen lassen. Exakt zu der Zeit, als die Kundgebung stattfand, wurde in Moskau über Berlin verhandelt, und es gab viele, die befürchteten, die Amerikaner würden Stalin nachgeben." Sein Vater hatte die Rede nicht ausformuliert, nur ein paar Punkte notiert. "Den Zettel sehe ich noch vor mir. Wenn Sie die Aufzeichnung heute hören, spüren Sie seine Anspannung. Der ganze Mensch war bis in sein Innerstes erregt." Die Rede machte Schlagzeilen, zeigte Wirkung. Der Westen ließ Berlin nicht fallen.
Edzard Reuter wurde 1928 in Berlin geboren, und auch wenn er später viele Jahrzehnte seines Lebens in Stuttgart gearbeitet und gelebt hat, die Stadt hat ihn nie wieder losgelassen. "Wissen Sie, wie es manchmal in Stuttgart heißt? Natürlich immer nur hinter vorgehaltener Hand? 'Der Reuter ist innerlich immer in Berlin geblieben.'"
Dabei hat Edzard Reuter die prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend in der Türkei verbracht, in Ankara. Seine Familie musste vor den Nazis fliehen. Der Sozialdemokrat Ernst Reuter bekam einen Lehrauftrag an einer Universität in der Türkei. "Ich werde nie vergessen, wie wir am ersten Tag mit dem Orientexpress in Istanbul ankamen", erzählt uns sein Sohn. "Es passierte kein Mord, von Detektiv Poirot war nichts zu sehen. Für einen kleinen Jungen war es trotzdem faszinierend. Wir sind über Belgrad gefahren, dann Sofia, und bereits hinter Belgrad fing der Balkan an. Bunt gekleidete Frauen mit wallenden Gewändern tauchten auf, dazwischen gackerten ein paar Hühner! Wir sind nach Ankara weitergereist, wir hielten vor einem Haus, das mitten im Matsch stand, in einem Neubaugebiet. Das war mein neues Zuhause." Edzard Reuter lernte schnell Türkisch, und er erinnerte sich im Gespräch, dass die Familie viel wandern gegangen ist, typisch deutsch, so viel Tradition aus der Heimat musste sein. "Und irgendwo, irgendwie sind wir dann auch auf irgendeinen Bach gestoßen, das war natürlich das Ziel: im Grünen wandern, das Picknick am Bach!"