Kontroverse um neues Videospiel: Wer »Dragon Age: The Veilguard ...
Gerade noch hat mir mein Necromancer-Kumpel auf dem Friedhof von seinen Panikattacken erzählt. Doch jetzt muss ich mich erst einmal gemeinsam mit einem Monsterjäger, der in seiner Freizeit gern schnitzt, und einer magisch begabten Detektivin einem dreiköpfigen Erzdämon stellen. Nach dem nervenaufreibenden Kampf entschließe ich mich, den Leuchtturm, in dem sich meine insgesamt sieben Mitstreitenden und ich zurückgezogen haben, umzudekorieren. Und ich frage mich, warum der absurd attraktive Auftragsmörder lieber über Kaffee spricht, als meine Flirtversuche zu erwidern.
Charakteroptionen in »Dragon Age: The Veilguard«: Mittelschwere Nervenzusammenbrüche
Foto: Dragon Age: The Veilguard / BioWare / DER SPIEGELNein, das ist kein Fiebertraum, das ist eine ganz normale Spielerfahrung in »Dragon Age: The Veilguard«. Nach zehn Jahren erscheint am 31. Oktober der vierte Teil der gefeierten Fantasyreihe für Playstation, Xbox und PC und zeigt, dass das Entwicklerstudio BioWare zurück zu alter Form gefunden hat.
»Veilguard« schickt Spielerinnen und Spieler als Anführende einer Widerstandsgruppe in den Krieg gegen zwei korrumpierte elfische Gottheiten. Rook, die Figur, die ich als Spielerin steuere, kann ich mir dabei beliebig zusammenstellen: Aussehen, ethnischer Background, geschlechtliche Identität und damit verbundene Pronomen sind frei wählbar. Und sollte ich zum Beispiel einen trans Mann spielen wollen, könnte ich auch OP-Narben im Brustbereich haben.
Nicht alle freuen sich darüber. Seit Monaten sorgen diese Optionen für mittelschwere Nervenzusammenbrüche in einer kleinen, aber lauten Gruppe selbst ernannter »echter« Gamer.
Für die große Identitätsfreiheit gibt es eine ZielgruppeDie Vorwürfe in apokalyptisch verpackten YouTube-Videos und Twitch-Streams , auf X oder im Community-Bereich von Steam lassen sich ungefähr so zusammenfassen: Entwickler BioWare unterwerfe sich dem woken Mob, zwinge den Spielenden eine Gender-Agenda auf und mache aus einem düsteren Fantasyrollenspiel für Erwachsene eine Diversitäts-verseuchte Vollkatastrophe in »Fortnite«-Optik.
Was richtige echte Gamer wissen: Schon »Dragon Age: Origins« hatte gleichgeschlechtliche Romanzen, »Dragon Age 2« eine Sklaverei-Storyline und »Dragon Age: Inquisition« einen trans Charakter. »Dragon Age« unterwirft sich in »Veilguard« also keiner aktuellen identitätspolitischen Agenda, sondern war schon immer »woke«, was nahelegt: Viele der Leute, die sich aktuell über »Dragon Age« beschweren, haben noch nie selbst »Dragon Age« gespielt.
Szene aus »Dragon Age: The Veilguard«: Monster wie aus dem Kinderkanal
Foto: Dragon Age: The Veilguard / BioWare / DER SPIEGELDazu kommt, dass es für die weitgehende Wahlfreiheit sehr wohl eine Zielgruppe gibt – sonst böten nicht mehr und mehr Spiele in ihren Charakter-Editoren die Auswahl von Pronomen oder Gender unabhängig von Geschlechtsorganen oder Körpertyp an. Sogar in »Call of Duty: Black Ops 6 « gibt es die Option, eine geschlechtsneutrale Anrede zu wählen. »Call of Duty«!
Was die »Buh, Wokeness«-Diskussion über »Veilguard« vollends absurd macht, ist, dass die laute Minderheit vollkommen missversteht oder nicht wahrhaben will, was ein Rollenspiel ist, insbesondere ein Fantasyrollenspiel.
Rollenspiele an sich sind Realitätsflucht oder -korrektur. Wer wäre man, wenn man nicht an seinen Körper, seine Persönlichkeit, sein Umfeld gefesselt wäre? Eine Variante des eigenen Selbst in einer komplett neuen Situation? Oder eine Person, die man für diese spezifische Geschichte gern wäre? Inklusivität, Entscheidungsfreiheit und wie auch immer geartete Identifikation mit der Spielfigur sind definierende Aspekte des Genres – egal ob man vor der Konsole sitzt, bei einem Larp-Event mitmacht oder mit Freundinnen und Freunden »Dungeons & Dragons« spielt. In einem High-Fantasy-Setting spielt es keine Rolle, ob es im echten Mittelalter schon geschlechtsangleichende Operationen gab. Eine fiktive Welt muss sich nur an der Realität orientieren, wenn sie es will.
Ich spiele in »Veilguard« eine Elfe, die deutlich heldenhafter ist als ich, aber genauso dicke Oberschenkel hat. Für einen trans Mann kann es ein Wunsch sein, endlich am Ende der Transition zu stehen und in seiner Identität von allen akzeptiert zu werden – weshalb er sich einen Protagonisten baut, dessen Geschlechtsangleichung schon abgeschlossen ist. Inklusive OP-Narben an der Brust. Und wenn sich Reddit-Powernutzer Maximilian, 17, in einen libanesischen Bodybuilder mit sichtbarem Bartwuchs hineinfantasieren will, dann ist ihm das auch erlaubt.
Narben auf Wunsch: Niemand wird im Charakter-Editor zu etwas gezwungen
Foto: Dragon Age: The Veilguard / BioWare / DER SPIEGELEs gibt absolut Dinge, die man an »Dragon Age: The Veilguard« kritisieren sollte. Das sehr bunte, verniedlichende Gegnerdesign lässt selbst untote Monster aussehen wie aus einer Gruselvorabendserie des Kinderkanals. Die Hauptstory braucht mehrere Stunden, bis sie wirklich interessant wird. Generell vermittelt mir das Spiel kein gutes Gefühl dafür, an welchem Punkt der Kampagne ich mich befinde. Das ist auch deswegen stressig, weil das Spiel verschiedene Enden hat – je nachdem, wie gut ich mein Team und verschiedene Fraktionen innerhalb der Spielwelt auf das große Finale vorbereitet habe.
Trotzdem vereint »Veilguard« viele der besten Aspekte aus seinen drei Vorgängern. Der Konflikt fühlt sich weltverändernd an und führt Spielende und ihr Team an ganz unterschiedliche Orte, wie in »Dragon Age: Origins« und »Inquisition«. Der Austausch mit Begleiterinnen und Begleitern und der klare Fokus auf persönliche Beziehungen und Schicksale sorgen für eine ähnliche Intimität und Dynamik wie in »Dragon Age 2«. Das komplett neue, actionlastige Kampfsystem erinnert hingegen an BioWares »Mass Effect«-Reihe und macht verdammt viel Spaß.
Doch darum geht es jenen, die »Dragon Age: The Veilguard« als progressive Umerziehungsmaßnahme diffamieren, offenbar überhaupt nicht. Es scheint ihnen egal zu sein, dass das Spiel niemanden dazu zwingt, im Charakter-Editor geschlechtsneutrale Pronomen auszuwählen oder optionale Nebenmissionen zu spielen, in denen sich eine Figur mit ihrer geschlechtlichen Identität auseinandersetzt. Vielmehr suchen sie gezielt nach den neuesten Spielen, aus denen sich ein »vernünftig versus progressiv«-Konflikt inszenieren lässt. Den befeuern sie dann so lange, bis das Spiel veröffentlicht ist und ihr virtuelles Gegenüber lieber spielt, als im Internet zu diskutieren – dann ziehen sie weiter zum nächsten potenziellen Kriegsschauplatz.
Diese Leute sprechen von »erzwungener« Diversität, meinen damit aber alles, was nicht in ihr Weltbild und ihren persönlichen Erfahrungshorizont passt. Sie wollen nur nicht offen zugeben, dass sie sexistisch, rassistisch oder queerfeindlich sind. Sie sind keine leidenschaftlichen, »echten« Gamer, sondern Kulturkampf-Touristen.