Große Kunst: Thielemann mit Wiener Philharmonikern in Dortmund

Dortmund

Dortmund. Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker gastierten im Konzerthaus Dortmund. Ein grandioses Ausrufezeichen im Bruckner-Jahr

Frisch verheiratet, komponierte Robert Schumann seine 1. Sinfonie (B-Dur op. 38) innerhalb von nur vier Tagen. Viele lieben diese „Frühlingssinfonie“ für die jauchzende Lebensbejahung, für ihren euphorischen Schwung. Den zelebriert auch Christian Thielemann, der jetzt mit den Wiener Philharmonikern im Konzerthaus Dortmund gastierte. Zugleich gibt er der Sinfonie eine dunklere Grundierung, als wolle er daran erinnern, wie eng Schaffensrausch und Daseinskrise bei Schumann verbunden waren.

Energie und Emphase wirken in dieser Deutung nervös, fast manisch. Allem Festglanz zum Trotz, verweigert Thielemann eine behagliche Romantik. Deren Nachtseite wühlt er auf, wenn er tief in die Knie geht, das Orchester mit seinen Gesten von unten her antreibt. Besonders deutlich wird das im langsamen Satz: Das Larghetto wirkt wie von innerer Unruhe getrieben und mündet in einen Posaunenchoral, der feierlich vor uns steht, dunkel umflort. Das Scherzo tönt gewichtig, beinahe etwas unfroh.

Eine Herausforderung für Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker

Dem Diktat leichter Konsumierbarkeit folgt dieser Schumann nicht. Aber wie Thielemann monumentale Fülle mit kammermusikalischer Feinheit verbindet, wie die Geigen zögernd, aber perfekt synchron ins Finale hinein tänzeln, wie in den Tremolo-Flächen der Streicher ein Wetterleuchten aufzuckt, ist große Kunst.

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Einen Weg durch Bruckners 1. Sinfonie zu finden, durchs Dickicht der Motive und das seltsam quer stehende harmonische Unterholz, ist wahrlich eine Herausforderung. Nur zu leicht, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Zum Glück sind Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker ganz in dieser Welt zu Hause. Im Herbst 2023 legten sie eine neue Gesamteinspielung vor.

Thielemann im Konzerthaus Dortmund: Fülle und Feinheit ergänzen sich

Fülle und Feinheit ergänzen sich auch hier. Hinzu kommen Bruckners typische Steigerungswellen, immer neue Apotheosen, wuchtig von den Blechbläsern überstrahlt. Mögen Thielemann und die Wiener das eröffnende Allegro auch wie einen mächtigen Pfeiler in den Erdboden rammen: Hier wird nicht kämpferisch geklotzt, nicht mit Kraft renommiert. Immer geht es um sinnstiftende Zusammenhänge.

So geführt, können wir staunend durch die Räume schreiten. Erleben mystische Tiefen (Bässe!), Lichtinseln (Holzbläser!), Sturmläufe und Verklärungsklänge. Wenn die Wiener Philharmoniker im Fortissimo-Exzess die jeweils nächste Stufe zuschalten, ist es fast, als höre man ein Getriebe einrasten: nicht lärmig, sondern satt und geschmeidig. Im Bruckner-Jahr, das mit dem 200. Geburtstag des Komponisten kürzlich seinen Zenit erreichte, setzen die Gäste ein grandioses Ausrufezeichen.

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