Fußballländerspiel Deutschland – Türkei: Neuer Trainer, alte ...

Der Vorführmoment ereignete sich in der 88. Minute. Die türkischen Spieler ließen den Ball vor und zurück zirkulieren, Zehntausende Fans riefen bei jedem Kontakt olé, die unterlegenen Deutschen ließen sich demütigen. Dabei war das Publikum im Berliner Olympiastadion sehr gemischt. So sah man unterschiedliche Farben, etwa die von Galatasaray oder Beşiktaş, Fenerbahçe oder Antalyaspor. Für Deutschland war es das erwartete Auswärtsspiel, Berlin war an diesem stimmungsvollen Abend Istanbul Nord. Rote Fahnen mit dem Halbmond wehten zwischen den Türmen, Stelen und Säulen des Olympiastadions in großer Überzahl.
Dieses Spiel war aber nicht wegen der Fansituation kein guter Vorbote auf die anstehende Europameisterschaft. Im nächsten Jahr dürfte der Heimvorteil der DFB-Auswahl ja garantiert sein. Zur Besorgnis gibt vielmehr die deutsche Mannschaft Anlass. Deren Entwicklungsstand lässt sich nach dem 2:3 gegen eine unerfahrene türkische Elf so zusammenfassen: neuer Trainer, alte Schwächen. Ein Muster kennen deutsche Fans inzwischen: Ihre Mannschaft beginnt temperamentvoll, geht früh in Führung, eine Zeit lang fühlt es sich an, als wäre der Sieg nur eine Frage der Höhe. Doch dann merkt der Gegner, dass es Spaß und Erfolg bringt, wenn man gegen die wacklige deutsche Defensive angreift. Er erspielt sich Chancen und schießt Tore. So lief es gegen Japan und Costa Rica in Katar sowie in diesem Jahr gegen die Ukraine und Mexiko.
So lief es am Abend auch gegen die Türkei. Zuerst war die türkische Abwehr überhaupt nicht auf der Höhe. Sie verlor Leroy Sané aus den Augen, der auf Kai Havertz passte. Dass der sich in der schwierigsten Phase seiner Karriere befindet, sah man ihm bei seinem Schüsschen an. Drin war er trotzdem. 1:0, und deutsche Fans sangen: "Auswärtssieg". So viel Humor hätten ihnen viele nicht zugetraut.
In der anschließenden Phase erwies sich Sané als viel zu gut für die, die ihn beschatten sollten. Seinen Haken war niemand gewachsen. Der Bayern-Spieler hätte das Chaos in der türkischen Hintermannschaft beinahe zum 2:0 genutzt. Die Türken verschüchterten sodann, das Stadion verstummte, die Fans hörten sogar auf zu pfeifen und zu buhen, wenn Deutschland am Ball war. "Schlaaand"-Rufe wurden erstmals hörbar, nichts deutete auf eine Wende hin.
"Eher ein linker 10er"Doch dann kam ein taktischer Kniff zum Tragen. Hansi Flick war in seiner Verzweiflung über die stete Abwehrschwäche nicht mehr eingefallen, als jedes Mal die Defensivformation zu verändern. Sein Nachfolger hat in Sachen Experimentierfreunde noch einen draufgesetzt: Julian Nagelsmann stellte die Stürmer in die Abwehr. Havertz und Sané liefen praktisch als Außenverteidiger auf. Nagelsmann bestritt das zwar nach dem Spiel, berief sich auf fiktive "Heatmaps", die, wenn es sie gäbe, vermutlich beweisen würden, dass Havertz eher in der gegnerischen Hälfte, also in der Offensive, agiert habe. "Er war eher ein linker 10er."
Doch letztlich verteidigte Havertz die meiste Zeit hinten statt am anderen Ende des Felds, wo er am besten ist. Sané spielte tatsächlich offensiver, das führte aber dazu, dass seine rechte Seite zur deutschen Blöße wurde. Es gab noch andere, aber sie war die größte.
Der DFB hat Nagelsmann bestellt, nun hat er Nagelsmann erhalten. Er sehe nicht ein, sagte er nach dem Spiel, "warum ein Weltklassespieler nicht auf einer anderen Position spielen kann". Seine Idee klang auf dem Papier progressiv, doch auf dem Platz resultierten alle drei Gegentore aus ihr. Das erste muss dem Trainer besonders peinlich gewesen sein. Ein langer Pass, für den man nicht das Fußballabitur abgelegt haben muss, fand Ferdi Kadıoğlu. Sané stand zu offensiv, Ausgleich. Wie einfach man gegen Deutschland Tore schießen kann!