Serie „Der Greif“ bei Amazon: Wo der Herr des Hasses regiert

Der Greif

Man sieht es nicht – und sieht es doch: eines dieser vergammelnden Schilder, die ohne viel Elan die weltweiten Partnerstädte eines mittelgroßen Kaffs aufzählen. Hawkins, USA, steht auf diesem imaginären Schild im halbimaginären Krefelden, das der in Krefeld aufgewachsene Autor Wolfgang Hohlbein erdacht hat.

So überdeutlich, ja, schamlos bedient sich „Der Greif“, das neue Retro-Fantasy-Epos aus dem Hause Amazon, bei der im fiktiven Hawkins spielenden Erfolgsserie „Stranger Things“ des Konkurrenten Netflix, dass man diesen Bezug ruhig mit ei­nem Augenzwinkern hätte ausstellen können. Hohlbeins Vorlage von 1989 wurde sogar in diesem Sinne angepasst, denn statt nur die Erlebnisse eines Jungen und seines verschwundenen Bruders in der so gefährlichen wie faszinierenden Phantasiewelt des schwarzen Turms auszumalen, ist es auch hier eine Gruppe Jugendlicher, die in Real- und Gegenwelt mit Dämonen, Träumen und der Pubertät zu kämpfen hat. Die Geschichte spielt, dem Buch ge­genüber leicht versetzt, im Jahr 1994.

Im Walkman läuft „Black Hole Sun“

Wie in Hawkins wird die Schule zum zentralen Handlungsort in der diesseitigen Welt. Und wenn die Jugendlichen mit ih­ren Hercules-Fahrrädern die Straße entlangrasen oder wenn Becky (Lea Drinda), der Schwarm des Außenseiter-Protagonisten Mark Zimmermann (Jeremias Meyer), auf dem Schulflur melancholisch Musik aus dem Walkman hört, dann lässt sich nur noch am Song feststellen, in welcher Serie man sich gerade befindet. Hier läuft zum Beispiel „Black Hole Sun“ (1994) von Soundgarden oder „Today“ (1993) von den Smashing Pumpkins.

Wie in „Stranger Things“ also wird mittels Musik das Lebensgefühl einer vergangenen Epoche evoziert, nur diesmal nicht der Achtziger, sondern der Neunziger. Die Protagonisten, die (etwas arg zugespitzt) sogar einen eigenen Plattenladen betreiben, unterhalten sich gern über Alben von Nirvana, Metallica oder den Black Crowes. Eine eher schwache Nebenhandlung hat ebenfalls mit Musik zu tun: Ein gutmütiger Schluffi träumt von einer DJ-Karriere, die er mit einer großen Party befeuern will. Die Erkennungsmelodie der Serie, das „Run­ning Up That Hill“ von „Der Greif“, ist „Creep“, die erste Radiohead-Single aus dem Jahr 1992: „But I’m a creep/ I’m a weirdo/ What the hell am I doing here?/ I don’t belong here“.

Des Weiteren kämpfen auch diesmal – nach längerem Zögern – eine taffe Mutter (Sabine Timoteo) und ein degradierter Polizist (Armin Rohde) an der Seite der Kinder gegen das Böse, wenngleich ihr Beitrag deutlich kleiner ausfällt. Und doch kann man von einem Plagiat nicht wirklich sprechen, schließlich beruht die Serie auf dem Roman eines Schriftstellers, der mit über vierzig Millionen verkauften Büchern großen Anteil am Errichten jenes Fantasy-Universums hat, auf das eine Serie wie „Stranger Things“ zurückgegriffen hat.

Und so mächtig die Analogien auch sein mögen, gibt es doch Unterschiede im narrativen Konzept. So ist die Familie der Zimmermanns immer schon eng mit der Turm-Parallelwelt verbunden. Dort hat ein machtgieriges, sich von Hass nährendes Wesen, der Greif, alle Völker versklavt und eine Diktatur errichtet. Viele Vorfahren Marks, der zudem an seinem sechsten Ge­burtstag die nie aufgeklärte Selbstverbrennung seines Vaters (Golo Euler) mitansehen musste, verschwanden spurlos, zu­letzt sein Bruder Thomas (Theo Trebs). Sie sind, so legt es eine alte Familienchronik nahe, in den Kampf gegen den Greif und seine gehörnten Krieger gezogen.

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