80 Jahre D-Day: Wenn Krieg zum Mythos wird
Stand: 06.06.2024 11:56 Uhr
Zum 80. Mal jährt sich die Landung der Alliierten in der Normandie. 80 Jahre, in denen sich die Erinnerung gewandelt hat. Der renommierte Historiker Leleu warnt vor einer "Vereinfachung" des Krieges.
Jean-Luc Leleu, Anfang 50, forscht in der Normandie an der Universität in Caen und hat Standardwerke geschrieben wie "1944 - Die Wehrmacht angesichts der Landung" oder: "Le débarquement - vom Ereignis zum Epos".
Die Landung der Alliierten in der Normandie stellt für ihn "wie die Schlacht um die Normandie eine sehr wichtige Operation" des Zweiten Weltkriegs dar. "Aber sie war nicht kriegsentscheidend. Nazi-Deutschland hat den Krieg wesentlich im Osten verloren", betont Leleu.
Bis zur Landung habe es mehr als zwei Millionen deutsche Kriegstote gegeben - davon mehr als 80 Prozent an der Ostfront. Im zweiten Halbjahr 1944 war es nicht anders: Im Osten verzeichneten die Deutschen etwa zwei Drittel ihrer Verluste.
"Aber die Operationen in der Normandie sind entscheidend für die Aufteilung der Einflusszonen unter den Siegermächten. Das ermöglichte die wirkliche Befreiung der westlichen Hälfte des Kontinents", betont Leleu. Es sei etwas anderes gewesen, "von den Angloamerikanern befreit zu werden als von der Roten Armee".
Erinnerung an zivile Opfer der LandungIn diesem Jahr wird erstmals offiziell der etwa 20.000 zivilen Opfer der Landung gedacht. Mehr als ein Drittel aller Zivilisten, die in Frankreich im Zweiten Weltkrieg getötet wurden, starb in der Normandie - die meisten durch Angriffe der Alliierten. Sie bombten sich ihren Weg frei, um deutsche Nachschubwege zu kappen.
Doch schon wenige Jahre nach dem Krieg habe niemand mehr darüber gesprochen. Erst in den 1990er-Jahren sei die Frage nach der Legitimität dieser Bombardements wieder aufgekommen, sagt Leleu weiter:
Der Oberkommandierende General Eisenhower will die Landung zum Erfolg machen und setzt auf seinen Trumpf - die Flugzeuge. Das Kalkül: Der Preis an Leben sei gerechtfertigt. So wurden mit der Landung absichtlich normannische Siedlungen angegriffen, um die deutschen Konvois durch Ruinen zu blockieren. Die Zivilisten wurden dieser Strategie geopfert.
Viele wähnten sich nicht in Gefahr, fanden die warnenden Flugblätter nicht. Das Museum Memorial in Caen zeigt Dokumentarfilme über die Härte der Kämpfe, stellt ein Brautkleid aus Fallschirmstoff aus. Alltag am seidenen Faden. Wie aber werden Fakten zu Mythen?
"Die Historiker stehen in Konkurrenz mit den Medien - allen voran Hollywoods Filmindustrie. In die auch das Pentagon eingreift", führt Leleu aus. Die Filmindustrie habe "Mythen geschmiedet, die heute fest verankert sind". Der Autor nennt als Beispiele Filme wie "Der längste Tag" oder "Der Soldat James Ryan" über US-Helden. "Das hat zu einer Amerikanisierung der Erinnerung geführt", so Leleu.
Der Sieger schreibt die Geschichte? Auch ein Mythos - die US-Armee hat die Besiegten nach dem Krieg mitschreiben lassen, hat Kriegsgefangene befragt, Memoiren angeordnet. Aus diesen Quellen speist sich auch der Bestseller "D-Day" des Briten Antony Beevor.
Gedenken im Schatten des Ukraine-KriegesMythen seien schwer zu bekämpfen. Gerade, wenn man - fast ohne Zeitzeugen - am Scheideweg stehe, so der Historiker Leleu. Man komme von der Geschichte, die man nicht ändern könne, zur Erinnerung. Die Wahrnehmung interagiere aber mit der Aktualität.
2024 findet das Gedenken im Schatten des Ukraine-Kriegs statt. Leleu erinnert an das Jahr 2004, als Russlands Präsident Wladimir Putin an den Feierlichkeiten zum Gedenken an die Landung in der Normandie teilgenommen hatte:
Man wollte ein gemeinsames Europa aufbauen. Krieg schien gebannt. Eine Illusion. Ich denke, in den Reden an diesem 6. Juni werden Werte wie Frieden und Demokratie im Vordergrund stehen.
Russland ist diesmal nicht eingeladen, dafür der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Deutschland, so Leleu, habe einen gleichberechtigten Platz. Das Memorial steht über einem deutschen Kommandobunker. Man dürfe diesen Konflikt aber nie "normalisieren", mahnt Leleu. Hinter den Bunkern des Atlantikwalls hätten die Wachtürme von Auschwitz gestanden. Leleu warnt:
Es besteht immer das Risiko, dass man die Ereignisse wie in einer Schneekugel einschließt, die man alle zehn Jahre wendet, weil das schön ist - ohne Schlüsse zu ziehen. Aber die Hauptlektion der Landung ist, uns zum Nachdenken zu bringen. Welchen Preis muss man für Freiheit und Demokratie zahlen? Und manchmal muss man sich dafür einfach engagieren!
Was ist der D-Day?
Der Begriff D-Day steht im angelsächsischen militärischen Sprachgebrauch grundsätzlich für einen Tag, an dem eine militärische Operation beginnen soll, deren Datum entweder noch nicht genau bestimmt ist oder geheim bleiben soll. Er wurde erstmals im Ersten Weltkrieg durch die US-Armee verwendet. Die genaue Bedeutung des "D" ist umstritten. Ergänzt wird der D-Day durch den Terminus H-Hour, der für die Anfangsstunde der Operation steht.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird D-Day vor allem mit der Landung der alliierten Truppen in der Normandie während des Zweiten Weltkriegs verbunden. Vom 5. auf den 6. Juni 1944 setzten die Alliierten mit einem großen Aufgebot an Soldaten, Schiffen und Flugzeugen über den Ärmelkanal und eröffneten in Frankreichs Westen eine weitere Front gegen die deutschen Truppen. Der Angriff auf die überraschte Wehrmacht gilt als eines der wesentlichen Ereignisse bei der Befreiung Europas von der NS-Herrschaft.
Leleu ist wissenschaftlicher Berater für den Antrag Frankreichs, die fünf Landungsstrände der Normandie ins Weltkulturerbe aufzunehmen. Die Menschen in der Region würden mit Leidenschaft am Gedenken teilnehmen, das habe schon jetzt Festcharakter.
Doch so gerate die Kriegsgewalt in Vergessenheit, beobachtet der Experte. Die Orte wetteiferten. Mit teils sechs Millionen Besuchern im Jahr entfalle gut ein Drittel des "tourisme de mémoire" - des "Erinnerungstourismus" - in Frankreich auf die Normandie. Sie industrialisiere diesen Tourismus, findet Leleu. Ihre Museen sind neben Verdun oder dem Invalidendom in den Top Ten der meistbesuchten Gedenkorte.
Umso schmerzhafter für Leleu, dass Caen eine Art D-Day-Land plane. Die Fläche wurde schon gekauft. Das Projekt heiße "Normandie Memory" und solle ziemlich kurz und knapp die Schlacht um die Normandie darstellen.
"In einem Spektakel von 45 Minuten. Über Licht, Geräusche, Schauspiel, ein Amphitheater mit Ruinen, Gleisen und so weiter soll Geschichte klischeehaft einem jungen Publikum vermittelt werden", so Leleu. 600.000 Besucher pro Jahr soll "Normandie Memory" anziehen, im Memorial sind es laut Leleu etwa 450.000.
Für Forscher und Lehrer, so Jean-Luc Leleu, sei diese Vereinfachung ein Problem. Der Krieg bestehe nicht nur aus den glücklichen Stunden der Befreiung. "Rund um die Niederlage 1940 herrscht ein schwarzes Loch im Gedächtnis. Warum erinnern wir so an die Landung 1944? Auch um 1940 zu vergessen", warnt Leleu und wirft die Frage auf: "Wie konnte ein Land, dass 1939 als größte Militärmacht erschien, in sechs Wochen zusammenbrechen? Eine Demokratie kann besiegt werden und das wirft Fragen auf für Gegenwart und Zukunft."