Von Hansa Rostock in die Champions League: Jens Härtel staunt ...
Stand: 27.11.2023 09:00 Uhr
Danylo Sikan mischt mit Schachtar Donezk die Fußball-Champions-League auf. Der Ukrainer kickte vor eineinhalb Jahren noch für Hansa Rostock und trifft am Dienstag in Hamburg mit Donezk auf Antwerpen. Über seine Entwicklung staunt auch sein alter Trainer Jens Härtel.
von Florian Neuhauss
Es ist ein Fußball-Märchen in ganz schweren Zeiten. Ausgerechnet während in seiner ukrainischen Heimat der Krieg allgegenwärtig ist, wurde der 22 Jahre alte Danylo Sikan zum Star. Live mitzuerleben zuletzt für 49.147 Zuschauende im Hamburger Volksparkstadion, wo Schachtar wegen des russischen Angriffskrieges seine Heimspiele austrägt: Mit seinem Tor schoss Sikan Donezk zum 1:0-Erfolg gegen den FC Barcelona.
Und es spricht einiges dafür, dass der junge Ukrainer auch am Dienstag (18.45 Uhr), wenn Donezk an der Elbe Royal Antwerpen empfängt, wieder eine Hauptrolle spielen wird.
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Der 1,85 Meter lange Stoßstürmer begeistert mit seiner mutigen und kreativen Spielweise genauso wie mit seinem Antritt und Tempo (32,49 km/h Topspeed). Dass ihm in der Defensive noch einiges an Qualität fehlt, wird ihm da verziehen. Ein Blick in die GSN-Daten offenbart: Mit einem Performance-Score von 61,23 zeigt er ausgerechnet in der "Königsklasse" seine besten Saisonleistungen.
Sikan stand in allen vier Gruppenspielen von Donezk von Beginn an auf dem Platz. In Antwerpen (3:2) hatte er schon mit einem Doppelpack großen Anteil am Sieg. Spätestens mit seinem Tor gegen Barcelona kennt ihn die ganze Fußball-Welt. Und diese Geschichte hat ihren Anfang nirgendwo anders als bei Hansa Rostock in der 2. Bundesliga genommen.
"Für so eine Entwicklung müssen immer ein paar Sachen zusammenkommen", sagt sein alter Hansa-Trainer Jens Härtel im Gespräch mit dem NDR. "Ich war überrascht, was Donezk für einen guten Fußball spielt. Da passt er natürlich rein und kann sich mit der Mannschaft weiter entwickeln." Geht für Sikan wirklich noch mehr?
Sikan wechselt als Hoffnungsträger zu Hansa RostockRückblende: Zur Rückrunde der Saison 2021/2022 verpflichtet Hansa Rostock einen hierzulande unbekannten Ukrainer. "Wir haben damals einen Stürmer gesucht, der gut ist im Pressing, der fleißig ist und viel läuft, aber auch ein gewisses Tempo hat und das Tor trifft", blickt Härtel, der von Januar 2019 bis November 2021 bei Hansa in der Verantwortung stand, zurück.
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Auch wenn der russische Angriffskrieg erst im vergangenen Jahr erfolgte, war in der Region Donezk im Donbass schon seit 2014 nichts mehr beim Alten. Pro-russische Separatisten hatten die Führung übernommen. Schachtar wich schon damals zu seinen Spielen in die Westukraine aus. Insgesamt kein gutes Umfeld für junge Fußballer, um sich zu entwickeln.
Dass sich Sikan für Hansa entschied, dürfte auch mit Volodymyr Lyutyi zu tun gehabt haben. Der Ukrainer arbeitet seit Jahren in der Nachwuchsabteilung des Clubs. "Volodymyr hat Danylo als Mentor auch außerhalb des Platzes begleitet", erzählt Härtel. "Es war ein großer Pluspunkt, dass wir jemanden hatten, der ihn privat und bei den ganzen Einflüssen des Krieges ein Stück weit abholen konnte."
Kurz nach dem Transfer bricht der Krieg ausDanylo Sikan ist mittlerweile auch im ukrainischen Nationalteam eine Größe.
Nur eine Woche nach der Verpflichtung kam der damals 20-Jährige zu seinem ersten Einsatz. Zwei Wochen später erzielte er als Joker sein erstes Tor in Deutschland. Die Freude war riesig - währte aber nicht lange. Denn Russland griff wenige Tage danach die Ukraine an und Sikan hatte auf einmal ganz andere Sorgen. Doch Hansa konnte helfen. "Wir haben dann schnell die richtigen Schritte eingeleitet, um seine Freundin und seine Mutter nach Deutschland zu bringen", berichtet Härtel. "So wusste er, dass sie in Sicherheit sind. Das hat alles gut funktioniert."
Der Fußball wurde in der Folge für Sikan zur Möglichkeit, sich abzulenken. Und für Härtel war der junge Danylo ein Spieler, wie er ihn sich nur wünschen konnte: "Er wollte lernen und hat alles aufgesogen, was wir ihm mitgegeben haben. Er war ja kein unumstrittener Stammspieler, hatte aber Geduld. Er hat sich über jeden Einsatz gefreut und ihn versucht zu nutzen." Trotz der Sprachbarriere und des Krieges bilanziert Härtel: "Danylo hat die Situation gemeistert."
Sturm-Talent bleibt nur ein halbes Jahr in RostockHärtel und der damalige Manager Martin Pieckenhagen hatten sich bei der Verpflichtung eigentlich gute Chancen ausgerechnet, Sikan über den Sommer hinaus an der Ostsee halten zu können. Durch den Krieg aber verließen viele ausländische Spieler Schachtar, das besonders für seine Südamerika-Connection bekannt ist. Plötzlich waren die ukrainischen Talente gefragt - so auch Sikan. Knapp eineinhalb Jahre später ist der Ex-Rostocker das Gesicht des Donezker Erfolgs.
Die Daten zeigen, dass Sikan eine beeindruckende Entwicklung genommen hat. In Rostock lag sein GSN-Index noch bei 63,08. Mittlerweile ist der Wert auf 69,28 gestiegen. Das weist ihn als einen Spieler aus, der in den besten fünf Ligen Europas mithalten kann. Und auch wenn die Expected Goals (0,51 pro Spiel) mit den realen Treffern (0,87) vergleicht, sieht man, dass er (zu) viel aus seinen Chancen gemacht hat. Sein Wert beim möglichen GSN-Index, der bei 72,25 Punkten liegt (internationale Klasse), zeigt jedoch, dass er noch Entwicklungspotenzial hat.
Donezk hat Chancen aufs Champions-League-AchtelfinaleHärtel weiß, dass die aktuelle Entwicklung für Sikan nur in Donezk möglich gewesen ist. "Die Chance, Champions League zu spielen, hätte er nirgendwo anders bekommen." Aber fest steht: Die Chance hat er genutzt. Schachtars "tolles Spiel" gegen Barcelona hat der 54-Jährige aufmerksam verfolgt. Die "guten Ballbesitzphasen und Umschaltmomente" haben ihm sehr gefallen: "Das hat Donezk richtig gut gemacht und ist jetzt wieder voll drin im Rennen."
"Ich habe schon viel erlebt im Fußball. Danylo könnte einer sein, der da für Furore sorgt." Ex-Sikan-Trainer Jens Härtel
Ein Punkt gegen Antwerpen reicht schon, um sicher europäisch - dann wahrscheinlich in der Europa League - zu überwintern. Mit einem Sieg könnte Donezk aber an Barcelona und Porto, die sich gegenseitig die Punkte streitig machen, heranrücken. Das letzte Gruppenspiel in Porto würde dann zum Finale um das Champions-League-Achtelfinale.
Weitere Schachtar-Spiele im HSV-Stadion?Wo Schachtar seine weiteren Europapokalspiele austragen würde, steht noch nicht fest. Auf NDR Anfrage teilte der HSV, der die Spiele für Donezk bis dato organisiert, mit, dass man sich "zum aktuellen Zeitpunkt, an dem noch alle drei Szenarien (Ausscheiden, Europa League, Weiterkommen in der Champions League) möglich sind, noch nicht genauer dazu äußern" könne.
Härtel traut Sikan noch einiges zuBleibt die Frage, was von Sikan in Zukunft noch erwartet werden kann. Ist es nur eine Momentaufnahme, oder hat der Ukrainer wirklich das Potenzial, um auf diesem internationalen Niveau mitzuhalten und in den kommenden Jahren noch für die eine oder andere Schlagzeilen zu sorgen?
"Da bin ich gespannt. Von der Mentalität her ja, ob alles andere dann noch passt, wird man sehen", sagt Härtel, fügt aber auch hinzu: "Ich habe schon viel erlebt im Fußball, dass die Jungs noch eine Entwicklung nehmen, die man ihnen so im ersten Moment nicht zugetraut hätte. Und Danylo könnte einer sein, der da für Furore sorgt."
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Sport aktuell | 28.11.2023 | 19:17 UhrSchlagwörter zu diesem Artikel Hansa RostockEuropapokal