Joe Biden: Wenn der Leibarzt zweimal klingelt

18 Jul 2024

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Joe Biden ist an Corona erkrankt, vorher wurde er von einem Parkinson-Experten untersucht. Es ist die Stunde der Mediziner. Ein Blick in die Geschichte der Hofärzte

18. Juli 2024, 15:57 Uhr

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Das Stethoskop ist ihr Zepter: Die Ärzte der Mächtigen sind oft selbst sehr mächtig. © Federico Yankelevich für ZEIT ONLINE

Es gibt Diagnosen, die behält ein Arzt besser für sich. Der Patient Wladimir Iljitsch Lenin beispielsweise stellte sowjetische Mediziner vor ein gehöriges Problem. Der Diktator hatte mit 54 Jahren mehrere Schlaganfälle erlitten, war vorübergehend seiner Sprache beraubt und dämmerte auf einem Landgut seinem frühen Ende entgegen; nach einigen Untersuchungen war die Ursache klar: Syphilis. Doch wie konnte man diese Geschlechtskrankheit einem Mann diagnostizieren, der nach offizieller Staatsdoktrin und -propaganda nicht nur gesund, sondern geradezu asketisch lebte? Es war ein Rätsel, das bei den Kremlärzten große Sorge auslöste – vor allem um das eigene Wohlergehen. 

Unerfreuliche gesundheitliche Fakten unter Verschluss zu halten, ist kein auf Diktaturen beschränkter Automatismus. Auch in Demokratien werden Politiker mehrheitlich außerhalb des Blickfeldes von Öffentlichkeit und Medien ärztlich betreut. Bei Joe Biden – der im Gegensatz zu Lenin ein gewähltes und integres Staatsoberhaupt ist – verhält es sich unterschiedlich. Was Ärzte über ihn berichten, ist in diesem politischen Moment äußerst heikel. Nachdem der US-Präsident in der Fernsehdebatte mit Donald Trump eine so mitleiderregende Performance hingelegt hat, erregt sein Ärzteteam großes mediales Interesse. So wurde eine neulich bekannt gewordene Beratung durch einen Parkinson-Spezialisten als "Breaking News" präsentiert. Auch wenn hart dementiert wurde, dass der Präsident an der Nervenkrankheit leide, wäre allein schon die Untersuchung darauf ein Debakel für sein Wahlkampfstrategen. Schließlich will man nicht unnötig an die Zerbrechlichkeit des Präsidenten erinnern. 

Nun wurde auch noch bekannt, dass der 81 Jahre alte Präsident sich mit dem Coronavirus infiziert hat. Die Krankheit geheim zu halten, wäre schon deshalb ein aussichtsloses Unterfangen, weil sie den präsidialen Terminkalender sehr augenfällig durcheinandergebracht hat. Stattdessen veröffentlichte das Weiße Haus eine Mitteilung. Darin verwies die Sprecherin des Präsidenten extra auf ihre Quelle: "Anmerkung vom Doktor des Präsidenten". Es folgten Werte über Temperatur und Atemfrequenz sowie die Information, Biden habe eine erste Dosis des antiviralen Medikaments Paxlovid erhalten. Es ist also einmal mehr die Stunde der Ärzte eines Mächtigen. Und selbst wenn in der Mitteilung des Weißen Hauses zum an Covid erkrankten Biden offenbar auf Transparenz gesetzt wird, ist der Blick auf das Phänomen des Leibarztes und auf die Rolle interessant, in denen er sich in der Historie befunden hat. 

Für deutsche Politiker ist Offenheit bei der eigenen Gesundheit ein Fremdwort. Helmut Schmidts "Erkältung" entpuppte sich im Nachhinein als Implantation eines Herzschrittmachers. Die Zitterattacken der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel einer eindeutigen Diagnose zuzuordnen, konnte erfolgreich verhindert werden – der Patientin Erklärung, nicht genug Wasser getrunken zu haben, blieb unangefochten. Nachfragen? Not welcome. Was natürlich die Frage aufwirft, was in solchen Fällen schwerer wiegt: die ärztliche Schweigepflicht oder das Recht der Wählerinnen und Wähler zu erfahren, ob die Person an der Regierungsspitze überhaupt amtsfähig ist? Es ist ein Dilemma mit weitreichenden Konsequenzen: François Mitterrand und seine Berater sahen beispielsweise keine Notwendigkeit, die Franzosen wissen zu lassen, dass ihr Präsident – immerhin Oberbefehlshaber einer Atommacht – wegen der Chemotherapie seines metastasierten Prostatakarzinoms kaum ansprechbar vor sich hindämmerte. Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass die Franzosen es für hoch notwendig hielten, darüber informiert zu werden. 

Im Gegensatz zur Moderne hatten Leibärzte oder – wie sie im Feudalismus heißen – Hofärzte in zurückliegenden Epochen wenig Anlass, im Verborgenen zu arbeiten. Wenn Herrscher ihre Gesundheit schon jemandem anvertrauten, dann den berühmtesten Medizinern ihrer Zeit, mit denen sie sich öffentlich als Star schmücken konnten. Der römische Kaiser Mark Aurel etwa engagierte den bedeutendsten Arzt der römischen Antike, Galen, dessen Ansehen mit dem des Imperators vergleichbar war: Mehr als 1.000 Jahre galten Galens Lehren den Heilkundigen in Europa als Leitfaden; genauso wie Mark Aurels Selbstbetrachtungen noch immer gelesen werden. 

Das hohe Renommee zahlreicher an die Herrschersitze berufener Mediziner trug zum Ansehen des gesamten Berufsstandes "Hofarzt" bei. So bildete sich etwa in Versailles ein einflussreiches Netzwerk von Medizinern, die – wie der Historiker Benjamin Steiner bemerkt hat – aufgrund ihres privilegierten Zugangs zum König Einfluss auf die Medizinische Fakultät in Paris ausüben und die Besetzung von Professuren mitbestimmen konnten. Mit ihrer enormen Geltung bei den Herrschern beließen es manche Hofärzte nicht bei Anstößen in Gesundheitspolitik und Postenvergabe, sondern suchten ihre eigenen gesellschaftspolitischen Anliegen durchzusetzen. 

Beispielsweise versuchte der niederländische Hofarzt von Kaiserin Maria Theresia, Gerard van Swieten, die von den Jesuiten durchgesetzte Zensur der Werke französischer Aufklärer zu lockern. Noch ambitionierter war Johann Friedrich Struensee, der 1769 Leibarzt des mental kranken dänischen Königs Christian VII. wurde. Die Schwäche des Monarchen machte den Arzt zum faktischen Herrscher des Reichs, kurz jedenfalls. 1772 wurde er gestürzt und hingerichtet. Hofärzte hatten, historisch gesehen, also immer viel Macht, teilweise indirekt, teilweise sogar direkt. 

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