Habeck kann Kanzlerkandidat werden und hat Ärger mit Baerbock
Was macht Annalena Baerbock eigentlich beruflich, mag sich Robert Habeck fragen. Diplomatisch war ihr Nein zur Kanzlerkandidatur jedenfalls nicht, auch wenn die Grünen der Außenministerin tapfer applaudieren. Habeck kann nun nach der Spitzenkandidatur greifen - zu einem denkbar schwierigen Zeitpunkt.
Die Marschroute der Grünen ist seit Wochen klar: Bloß nicht negativ auffallen. Kein öffentliches Stänkern gegen die Koalitionspartner, keine Maximalforderungen, die bei Nichterreichen die Partei wie einen Verlierer aussehen lassen. Ebenfalls Teil dieser Strategie gegen das Umfragen-Dauertief: bloß keine Debatte über eine Kanzlerkandidatur. Keinesfalls sollte ein Bild von parteipolitischer Selbstbeschäftigung entstehen, schon gar nicht angesichts der miserablen 11 Prozent Zustimmung im RTL/ntv-Trendbarometer. Lieber wollten die Grünen über Sachthemen und Erfolge reden. Über die Einigung von Haushalt und Wachstumspaket in der vergangenen Woche zum Beispiel. Doch diese Strategie hat Deutschlands Chefdiplomatin Annalena Baerbock gesprengt.
Die USA haben beim NATO-Gipfel in Washington die Stationierung von Waffen in Deutschland bekannt gegeben, die binnen Minuten Moskau erreichen könnten. Baerbocks Interview, das sie am Rande des Gipfels dem US-Sender CNN gab, kam der US-Entscheidung durchaus nahe: Binnen Minuten erreichte ihre überraschende Verzichtserklärung auf eine erneute Kanzlerkandidatur das politische Berlin und sprengte manche Planung. Die anerkennenden, aber sichtlich unvorbereiteten Reaktionen aus Fraktion und Partei belegen, wie sehr selbst die Grünen-Spitzen von Ort und Zeit dieser Mitteilung überrascht wurden.
Zu wichtig für eine KanzlerkandidaturOffensichtlich hat sich Baerbock für einen nach außen selbstbestimmten Ausstieg aus dem Duell mit Robert Habeck um die Kanzlerkandidatur entschieden. Intern war die Entscheidung längst gefallen. Die derart entstandene Begründung geriet holprig: "Statt in einer Kanzlerkandidatur gebunden zu sein", wolle sie angesichts der internationalen Krisen ihre Kraft "weiterhin voll und ganz" ihrer aktuellen Aufgabe widmen, sagte Baerbock. Die Welt brauche jetzt "mehr Diplomatie". Der Subtext lautet, Baerbocks Rolle sei zu wichtig, um jetzt Wahlkampf zu betreiben. Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dürften sich für diese Einschätzung bedanken.
Es stimmt, dass Habeck bereit ist für die Rolle, die er ja schon 2021 ausfüllen wollte. Damals hatte er nach monatelangem Wettlauf, auf dem Höhepunkt grüner Umfragewerte, der in der Partei breiter verankerten Baerbock die Kanzlerkandidatur überlassen müssen. Die folgenden Wahlkampfmonate erinnerten Habeck vielleicht an "Immer Ärger mit Bernie". In dem damals populären Klamaukfilm von 1989 müssen die Protagonisten einen Leichnam mit sich rumschleppen und ihn nach außen lebendig erscheinen lassen. So erging es Habeck in jenem Sommer mit Baerbocks Kanzlerträumen, die diese fast im Alleingang in den Sand setzte.
In den vergangenen Wochen war dieser Leichnam nun wieder unterwegs; keinesfalls wollte Baerbock das Feld freiwillig und ohne Preis räumen. Nun aber lässt es die einst in ihrer Partei so viel beliebtere Politikerin so aussehen, als falle Habeck die Kandidatur nur deshalb zu, weil sie nicht mehr wolle - oder um des Weltfriedens willen nicht könne. Habeck und der Partei bleibt nichts, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Baerbock mache "einen großartigen Job in schwierigen Zeiten", sagte Habeck im Interview mit ntv.de. Wie sich die Partei zur Bundestagswahl aufstelle, werde die Parteiführung "zu gegebener Zeit" entscheiden.
"Teamspielerin durch und durch"Unter den vielen Lobpreisungen zeigte sich die Vorsitzende der Grünen-Fraktion und Baerbock-Vertraute, Britta Haßelmann, besonders enthusiastisch. Die Außenministerin sei eine "Teamspielerin durch und durch". Dafür sei sie in der Partei bekannt. "Sie zeigt große Verantwortung, in dieser krisenhaften Zeit und dieser Weltlage, ihr Engagement voll und ganz der Außenpolitik zu widmen", sagte Haßelmann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Dabei findet Teamplay in der Bundespolitik eher selten seinen Ausdruck, indem man in Tausenden Kilometern sicherer Entfernung ausländischen Medien Einzelinterviews gibt.
Habeck wollte dieser Tage eigentlich lieber über das Wachstumspaket für die deutsche Wirtschaft reden. Er hält das für einen großen Wurf angesichts der durch die Schuldenbremse und ideologische Differenzen auferlegten Fesseln für die Bundesregierung. Stattdessen droht ihm nun eine Kandidaturdebatte, die er zu diesem Zeitpunkt selbst für deplatziert hält. So schlägt sich Habeck abermals mit Baerbocks toten Kanzlerträumen herum. Die Fortsetzung des Klamaukfilms hieß "Wieder Ärger mit Bernie".
Stützt die Partei ihn als Kanzlerkandidaten?Aus Parteisicht liegt der Ball zur Verkündung einer Kandidatur nun bei ihm, dem Vizekanzler. "Er muss für sich selber entscheiden, ob er das möchte - aber ich traue ihm sehr viel zu", sagte Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge in der ntv-Sendung Frühstart. Der Bundeswirtschaftsminister habe das Land durch schwierige Zeiten gesteuert und gezeigt, wie gutes Regieren gehe.
Auch Zweifel werden laut: Der Grünen-Abgeordnete Felix Banaszak sagte der "Rheinischen Post", Habeck müsse für eine Kanzlerkandidatur "unter Beweis stellen, dass er die Partei in ihrer Breite mitnehmen kann und will". Nicht nur im linken Flügel hatte sich zum Teil Unmut darüber breit gemacht, dass Habeck seit Monaten ausstrahlt, dass ihm die Kanzlerkandidatur diesmal auch zustehe.
Doch vielleicht ist die Partei Habecks geringste Sorge. Die Grünen reihen sich nunmehr schon seit Jahren stets hinter ihrer Parteiführung ein. Auch kontroverse Entscheidungen werden am Ende leise murrend mitgetragen. Diese beinahe unterwürfige Geschlossenheit hat durch die vielen Attacken von außen sogar noch zugenommen.
Plötzlich alternativlosUnd das ist der große Unterschied zur Ausgangslage 2021: Damals waren die Grünen dem Kanzleramt nahe wie nie. Bei 28 Prozent Zustimmung stand die Partei vor drei Jahren und drei Monaten im RTL/ntv-Trendbarometer. Davon ist ihr rund ein Drittel geblieben. Da stellt sich die ganz grundsätzliche Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Kanzlerkandidaten Habeck. Doch schon allein für die mediale Sichtbarkeit, für einen Platz am Fernsehtisch der Kanzlerkandidatenrunden, müssen die Grünen jemanden mit Strahlkraft nominieren. Und wer soll es sonst tun, außer Habeck? Diese Zwangslage aber hat wenig von der Erfüllung eines Traumes.
Habeck muss jetzt den grünen Salat aufessen, der da in zweieinhalb Jahren Regierungsbeteiligung gewachsen ist. Bei der Bundestagswahl 2025 stärkste Kraft zu werden, erscheint unwahrscheinlich. Und selbst wenn: Welche andere Partei wollte unter einem grünen Kanzler mitregieren? Es sind wenig vielversprechende Perspektiven, die sich aus Baerbocks öffentlichem Verzicht für Habeck ergeben. Andererseits galt auch Olaf Scholz' Kandidatur noch Wochen vor dem Wahltag als völlig aussichtslos. Mindestens in diesem Punkt taugt der Kanzler durchaus zum Vorbild für seinen Stellvertreter. Und die "Bernie"-Komödien wurden nach dem miserablen zweiten Teil auch nicht fortgesetzt.