Nahost-Experte über Aufstieg und Fall des Assad-Clans: »Angst ist ...

17 Tage vor

Überlebensgroße Darstellung Hafis al-Assads in Damaskus (1988): »Großmeister des Systems der Foltergefängnisse«

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SPIEGEL: Der syrische Diktator Baschar al-Assad ist nach Moskau zu Putin geflohen, ausgerechnet zu jenem Mann, der ihn ab 2015 im Krieg unterstützte, ihn jetzt aber im Stich ließ. Wieso hat Putin seinem alten Freund keine militärische Schützenhilfe geleistet?

Schmidinger: Schwer zu sagen. Nicht nur Russland, sondern auch der Iran haben Assad fallengelassen. Entweder waren sie nicht mehr in der Lage oder nicht mehr willens, den syrischen Diktator zu unterstützen. Russland ist derzeit stark im Ukraine-Krieg eingebunden, Putin hat sich offenbar dazu entschieden, dass Syrien keine Priorität hat.

SPIEGEL: Syrien verstand sich als sozialistische Republik, seit 1963 stand die Sozialistische Baath-Partei an der Staatsspitze, das Land war bereits mit der Sowjetunion eng verbündet. Zuletzt war Putin eine zentrale Stütze des Regimes – bis jetzt. Wie schwer wiegt, dass auch Iran nicht einsprang, ebenfalls lange ein Verbündeter Assads?

Schmidinger: Das war der Todesstoß: Wenn man von seinen beiden wichtigsten Unterstützern im Stich gelassen wird, hat man keine Chance.

SPIEGEL: Die Familie Assad regierte Syrien über einen Zeitraum von 54 Jahren: 1970 kam Hafis al-Assad an die Macht, nach dessen Tod übernahm sein Sohn Baschar. Warum war es möglich, diese Familienherrschaft ausgerechnet jetzt zu stürzen?

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Thomas Schmidinger ist Politikwissenschafter, Sozial- und Kulturanthropologe. Er lehrt am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien und verbringt viel Zeit im Nahen Osten. Gerade erst vor drei Wochen war er in Syrien.

Schmidinger: Der Zeitpunkt hängt ganz entscheidend mit der Schwäche der Hisbollah im Libanon durch den Krieg mit Israel zusammen. Sie ist zwar nicht »vernichtet« worden, wie dies der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu formuliert hat. Aber doch zu sehr aufgerieben, um Assad beizuspringen.

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SPIEGEL: Wie kam die Familie Assad 1970 an die Regierung?

Schmidinger: Hafis al-Assad putschte sich durch einen unblutigen Staatsstreich an die Macht. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der einen klar extremen Kurs fuhr und auf der Vernichtung Israels bestanden hatte, stand Assad für eine Korrektur innerhalb der Arabisch Sozialistischen Baath-Partei: Er signalisierte Verhandlungsbereitschaft in Sachen Israel-Palästina-Konflikt. Was jedoch blieb und unter Assad noch weiter ausgebaut worden ist, war ein extrem autoritäres Regime nach innen.

SPIEGEL: Wie sah die Terrorherrschaft der Assads konkret aus?

Schmidinger: Beide Assads waren Großmeister des Systems der Foltergefängnisse. Syrien wird seit 1949 autoritär regiert. Anfangs halfen ehemalige deutsche Nationalsozialisten beim Aufbau eines Geheimdienstes, später die DDR und die Sowjetunion. Hafis al-Assad etablierte einen polizeilichen Überwachungsstaat mit vielen verschiedenen Überwachungsdiensten. Baschar al-Assad übernahm das System, mit Kriegsbeginn 2011 wurde der Druck noch schlimmer. In Foltergefängnissen wie Saidnaya wurden Tausende von Gefangenen gequält und hingerichtet. Die Familie überzog das Land mit einem straff durchorganisierten Repressionsapparat.

SPIEGEL: War der Terror in Syrien ideologisch motiviert?

Schmidinger: Nicht nur. Er lässt sich zumindest teilweise dadurch erklären, dass die Familie Assad den Aleviten angehört, einer religiösen Minderheit. Sie fühlte sich insbesondere von islamistischen Oppositionsgruppen immer bedroht. Durchaus zu Recht: Der Aufstand, den die Muslimbrüder 1982 in der syrischen Stadt Hama organisierten, begann gezielt mit der Ermordung alevitischer Rekruten der syrischen Armee.

SPIEGEL: Weil Basil al-Assad, der erstgeborene Sohn, 1994 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, übernahm im Jahr 2000 sein jüngerer Bruder die Macht in Syrien. Baschar al-Assad galt als Hoffnungsträger. Warum?

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Schmidinger: Als studierter Augenarzt hatte Baschar mehrere Jahre lang in London gelebt, die Menschen waren zuversichtlich, dass er liberaler ist und nicht so brutal durchregieren würde wie sein Vater. Zumindest anfangs sah vieles danach aus, man bezeichnet die ersten Monate der Regierung von Baschar al-Assad auch als »Damaszener Frühling«.

SPIEGEL: Wieso?

Schmidinger: Baschar al-Assad suchte Gespräche mit den dialogwilligen Kräften innerhalb der Opposition, also mit liberalen und linken Kräften. Diese Phase währte jedoch nur etwa ein halbes Jahr. Danach wurden viele wieder eingesperrt, das Regime kehrte in seinen alten Zustand zurück.

Assad mit Gattin Asma (2001): »Die Menschen waren zuversichtlich, dass er liberaler ist und nicht so brutal durchregieren würde wie sein Vater«

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Schmidinger: Das werden Historiker erst dann klären können, wenn die Geheimdienst-Archive zugänglich sind. Noch muss offenbleiben, ob Assad eigentlich viel reformwilliger war, aber als Marionette der Sicherheitsapparate gar nicht anders konnte, als die Opposition gezielt zu unterdrücken. Oder ob er aus eigenem Willen so totalitär handelte.

SPIEGEL: Während Assad nach innen stark autoritär regierte, zeigte er außenpolitisch auch nach Ende des kurzen »Damaszener Frühlings« eine gewisse Flexibilität.

Schmidinger: Das stimmt. Nachdem Assad 2003 noch die bewaffneten Untergrundgruppen im Irak gegen die Amerikaner unterstützt hatte, wurde ihm das Ganze zu dschihadistisch, und er vollzog eine Wende. Auf der Weltbühne wurde er damals stark hofiert, von Journalisten wohlwollend interviewt. Westliche Beobachter und Politiker machten sich Illusionen über das Regime – innenpolitisch hatte sich in dieser Phase leider nichts verbessert.

SPIEGEL: In einer Rede vor dem Parlament sagte Assad 2011: »Aufruhr niederzuschlagen, ist eine nationale, moralische und religiöse Pflicht. (...) Der Heilige Koran sagt: ›Aufruhr ist schlimmer als Töten!‹« Damit rechtfertigte er sein hartes Vorgehen gegen die Aufständischen des Arabischen Frühlings. Später ließ er Giftgas gegen die eigene Bevölkerung einsetzen, Fassbomben auf Wohngebiete werfen: Was für ein Mensch ist Assad?

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Schmidinger: Was sowohl Hafis als auch Baschar al-Assad umtrieb, ist ihre sicher authentische Angst vor der sunnitischen Mehrheit. Die stammt aus der jahrhundertelangen historischen Erfahrung einer religiösen Minderheit, die immer wieder marginalisiert und bekämpft worden ist. Die Assads fürchteten sich immer vor jeglicher Form des politischen Islam, des Islamismus. Und Angst ist eines der stärksten Motive, repressiv und gewalttätig bis zum Exzess zu sein.

Putin-Assad-Merchandise (2016): »Wenn man von seinen beiden wichtigsten Unterstützern im Stich gelassen wird, hat man keine Chance«

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SPIEGEL: Diese Angst hinderte Baschar al-Assad aber nicht daran, nach Beginn des Arabischen Frühlings 2011 Tausende Islamisten aus den Gefängnissen zu entlassen und so gezielt die Radikalisierung des Konflikts im eigenen Land zu schüren. Hat er sich da verkalkuliert, und das war der Anfang seines Endes?

Schmidinger: Letztlich ja. Zunächst hat diese Strategie aber gut funktioniert, weil der säkulare Totalitarismus von Assad im Kontrast zum völligen Wahnsinn des »Islamischen Staats« (IS) geradezu freundlich wirkte. Die Syrer haben das zwar nie so gesehen, aber der Westen ist da in die Falle getappt – was man daran sehen konnte, wie jetzt kurz vor dem Sturz von Assad versucht wurde, wieder Kontakt mit ihm aufzunehmen. Im Land selbst hat das Assad-Regime die Angst vor den Islamisten genutzt, um sich die Loyalität anderer Minderheiten zu sichern. Etwa die der Christen, die froh waren, dass man ihnen wenigstens die Religionsfreiheit lässt und den Dschihad abwehrt.

SPIEGEL: Warum scheute Assad vor Reformen zurück, die seine Herrschaft vielleicht hätten sichern können? Wie konnte er über die Jahre derart den Kontakt zur Realität verlieren?

Schmidinger: Gerade, wenn man so viele Kriegsverbrechen begangen hat wie Assad, ist eine Kehrtwende schwierig. Hinzu kommt, dass Diktatoren umgeben sind von Lakaien und Speichelleckern, die ihnen realistische Informationen vorenthalten, etwa den schlechten Zustand der Armee, weil sie sich damit selbst in Gefahr bringen, insbesondere in einer Krisensituation. Diesen Realitätsverlust sehen wir oft in der Spätphase von totalitären Herrschern.

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SPIEGEL: Wie geht es weiter? Kommt jetzt das streng islamistische Kalifat?

Schmidinger: Das glaube ich nicht. Die Religiösen in Syrien streben eher ein sanfteres Emirat als ein IS-Kalifat an, etwa nach dem Vorbild Afghanistans. Aber ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass es eine Zusammenarbeit mit demokratischen und kurdischen Kräften auf der Basis eines syrischen Patriotismus geben kann. Vorstellbar wäre eine Wiederherstellung der Souveränität Syriens, also Syrien den Syrern, und Türken, Iraner, Russen, Amerikaner: raus!

SPIEGEL: Und wenn das nicht gelingt?

Anti-Assad-Demo in Homs (21. Dezember 2011): »Syrien den Syrern, und Türken, Iraner, Russen, Amerikaner: raus!«

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Schmidinger: Dann wird dieser Bürgerkrieg noch ein längeres Nachspiel haben. Denn natürlich werden die Syrischen Demokratischen Kräfte, aber wahrscheinlich auch die säkularen Gruppen oder auch die Religionsgemeinschaft der Drusen ein islamisches Emirat nicht akzeptieren. Dann haben wir ein Szenario, wie es in Libyen nach dem Fall des Diktators Gaddafis war. Und das hätte wahrscheinlich Auswirkungen auf einige Nachbarstaaten, besonders Irak, möglicherweise Libanon und Israel.

SPIEGEL: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat einst mit seinem Kumpel Baschar geurlaubt, jetzt hat er ihn verraten. Welche Rolle spielt die Türkei derzeit?

Schmidinger: Die Türkei hat immer wieder territoriale Ansprüche auf den Norden Syriens erhoben, aber auch auf den Norden des Irak. Teilweise kursieren bis heute Landkarten in türkischen Medien, auf denen der Norden Syriens als türkisches Staatsgebiet ausgewiesen wird. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die Türkei freiwillig die in Syrien besetzten Gebiete wieder räumen wird.

SPIEGEL: Gründet dieser Anspruch historisch auf dem Sykes-Picot-Abkommen, mit dem Großbritannien und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen im Nahen Osten neu ziehen wollten?

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Schmidinger: Genau, diese imperialen Interessen haben mit dem politischen Trauma des zerbrochenen Osmanischen Reiches zu tun. Die Türkei will ihre Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg revidieren.

SPIEGEL: Für das antiisraelische Bündnis Irans, die »Achse des Widerstands«, war Syrien extrem wichtig. Ist sie nun zerbrochen?

Schmidinger: Sie ist nicht völlig kaputt, aber sie hat massiv an Einfluss verloren. Dass der Iran Assad fallen gelassen hat, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Teheran versucht, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich würde mich nicht wundern, wenn der Iran sich außenpolitisch völlig neu orientiert und vielleicht endlich eine Annäherung mit dem Westen sucht.

SPIEGEL: Nach 14 Jahren Krieg ist Syrien kaputt, die Wirtschaft am Boden, die intellektuellen Eliten sind weg. Wie und wem kann es da gelingen, eine neue Verfassung, ein neues Land aufzubauen?

Assad mit dem damaligen Bundeskanzler Schröder (2001): »Auf der Weltbühne wurde er damals stark hofiert«

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Schmidinger: Auch weil die USA unter Trump wahrscheinlich ausfallen, sind wir jetzt gefragt. Die Europäische Union hätte sehr viel in der Hand, um die Entwicklung in Syrien positiv zu beeinflussen. Es gilt, mit einer Art Marshallplan den Wiederaufbau Syriens zu finanzieren. Da muss man viel Geld in die Hand nehmen, dies aber an politische Bedingungen knüpfen: dass dort eben nicht ein islamisches Emirat errichtet wird, dass Menschenrechte und Minderheitenrechte garantiert werden und ein politischer Prozess stattfindet, der zu einer zumindest pluralistischen Staatlichkeit führt. Wegschauen und den Kopf in den Sand stecken, ist jedenfalls keine gute Idee.

SPIEGEL: Wie schätzen Sie die Chance ein, dass es der EU gelingt, eine gemeinsame Position zu Syrien zu finden?

Schmidinger: Leider nicht sehr hoch. Dabei liegt ein stabiles Syrien im vitalen Interesse der Europäischen Union. Denn wenn es nicht klappt, werden wir die nächste Flüchtlingswelle sehen.

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