Anne Applebaum: Was man über die Autorin wissen muss

10 Stunden vor

Friedenspreis für Anne Applebaum

Die Netzwerke der Autokraten

Friedenspreisträgerin Anne Applebaum auf der Frankfurter Buchmesse 2024.

Eine streitbare Historikerin, Journalistin und Autorin: die Friedenspreisträgerin Anne Applebaum auf der Frankfurter Buchmesse 2024. © picture alliance / Panama Pictures / Dwi Anoraganingrum

Mit ihren Büchern zur Ukraine oder autoritären Tendenzen in Europa und den USA ist die Historikerin Anne Applebaum nah an der Gegenwart. Früh warnte sie vor der Expansionspolitik Putins. Jetzt erhält sie den Friedenspreis des Buchhandels.

„Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass in der Geschichte die große Mehrheit der Menschen in autokratischen Systemen gelebt hat, in Monarchien, unter Diktatoren. Wir haben das einzigartige Glück, dass wir zurzeit in einer liberalen, demokratischen Zivilisation leben. Aber es gibt die ganze Zeit Konkurrenz“, sagt die Historikerin, Autorin und Journalistin Anne Applebaum.

Für ihre Analysen autokratischer Herrschaftssysteme hat sie nun den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. „In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden“, heißt es in der Begründung.

Machthaber, die nichts von Demokratien halten

Autokraten und mächtige Männer, die nichts von Demokratien und Menschenrechten halten - das ist ihr Thema. 1964 in Washington, D. C., geboren, interessiert sich Anne Applebaum früh für die andere Seite, die Sowjetunion. In Yale studiert sie Russische Geschichte und Literatur, später in London und Oxford Internationale Beziehungen.

Um noch näher ranzukommen, geht die Historikerin Ende der Achtzigerjahre nach Polen und wird Journalistin. Sie schreibt für namhafte Zeitung wie die „Washington Post“, den „Economist“ oder „The New York Times“ über die sozialistische Volksrepublik, über das Leben dort und bald auch über ihren Zerfall.

In „Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine“ schreibt sie über die Hungersnot in der sowjetischen Ukraine zu Beginn der 1930er-Jahre. Für ihr Buch „Gulag“ – eine Gesamtdarstellung des sowjetischen Lagersystems – erhält sie den Pulitzerpreis.

Applebaum warnt vor der Expansionspolitik Putins

Schon früh – und bis heute – warnt sie vor der Expansionspolitik Wladimir Putins. In einem Vorwort des 2024 als Neuauflage erschienen Buches „Gulag“ prognostiziert sie, dass ein neues Lagersystem in Russland entstehe. Eine durchaus umstrittene Aussage findet der Historiker Martin Sabrow. Und auch sonst falle Applebaums Urteil als „Public Intellectual“ häufig „schärfer, prononcierter“ aus als sonst in Fachdiskurs unter Historikern üblich. Damit provoziert Applebaum auch Widerspruch. Etwa wenn sie die These vertritt, dass Putin und Hitler zumindest in mancher Hinsicht vergleichbar seien.

Inzwischen hat Applebaum die polnische Staatsbürgerschaft angenommen, lebt mit ihrem Mann – dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski – und zwei Kindern in Polen. Dort wurde sie zu einer der härtesten Kritikerinnen der nationalpopulistischen PiS-Regierung und ihrer Angriffe auf die Gewaltenteilung.

Die Verschiebung des Diskurses nach rechts

In ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären" (2021) beleuchtet Applebaum die Verschiebung des politischen Diskurses nach rechts in Europa und den USA – und fragt: Was macht für viele Menschen die Rückkehr zu autoritären Herrschaftsformen so erstrebenswert? Sie geht dabei der Bedeutung von sozialen Medien, Verschwörungstheorien und Nostalgie nach – und zeichnet auf, wie Elitenbashing die Wut befeuert hat.

Für Applebaum stecken hinter der Verschiebung des Diskurses Netzwerke von Journalisten, Wissenschaftlern, Intellektuellen und Politikern. Diese würden hinter Machtmenschen wie Erdogan, Putin oder Orban die Strippen ziehen. Das beschreibt Applebaum auch anhand ihres eigenen Freundeskreises, zu dem Journalisten, Politiker und Diplomaten gehören. In ihrem Buch erzählt sie von einer Silvesterparty 1999 in einem polnischen Landhaus – eine Ost-West-Begegnung im Zeichen der Globalisierung, bei der alle an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie glaubten.

Mittlerweile, so berichtet Applebaum, wechsele man die Straßenseite, wenn man einander sehe. „Weil die gesellschaftliche Spaltung in Polen so weit radikalisiert ist, dass man miteinander gar nicht mehr reden kann“, der Historiker Martin Sabrow dazu. Applebaums Analyse: Die Elite habe ganz offenkundig eine grundsätzliche "autoritäre Veranlagung".

Die Achse der Autokraten

Polen ist nicht zur Autokratie geworden, sagt Applebaum. 2023 verlor die PiS die Macht. Aber das Land war lange Zeit auf dem Weg dorthin. Denn die PiS hat sich derselben Rezepte bedient, die Anne Applebaum in ihrem Buch „Die Achse der Autokraten“ beschreibt.

Es handele sich dabei um ein „Netz von Autokraten“, die keine gemeinsame Ideologie hätten, so Applebaum. „Das kommunistische China, das nationalistische Russland, die iranische Theokratie, das sind sehr verschieden Länder.“ Doch eines hätten sie gemein: „Alle regieren ohne unabhängige Richter, Medien, ohne Kritik und ohne Opposition. Und sie wollen weiter so regieren.“

Deshalb könne Russland auch mit iranischen und nordkoreanischen Waffen die Ukraine angreifen, und deshalb – sagt Applebaum immer wieder – gehe es bei diesem Krieg auch um mehr als um die Ukraine. Es gehe um den Fortbestand der liberalen Demokratie.

Preis wird seit 1950 vergeben

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. Geehrt werden Persönlichkeiten, die in Literatur, Wissenschaft oder Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen haben. Die Auszeichnung wird traditionell am letzten Tag der Frankfurter Buchmesse in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Im vergangenen Jahr wurde der Schriftsteller Salman Rushdie geehrt.

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