Ein optimistischer Abgesang auf Deutschland: Angela Merkels ...
Buchpräsentation von Merkel: Feigheit als politisch-gesellschaftliche Maxime
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Dies ist eine merkwürdige Textgattung, nämlich ein optimistischer Abgesang – und zwar auf Deutschland. Der Anlass: Angela Merkel hat ihre Autobiografie vorgestellt . Sie heißt »Freiheit«, sie sollte »Feigheit« heißen. Denn der Prägestempel, den Merkel dem Land über 16 Jahre aufgedrückt hat, ist der der Mutlosigkeit, getarnt als Pragmatismus.
Die Merkelsche Feigheit als politisch-gesellschaftliche Maxime ist aber nicht allein Merkels Verantwortung. Die Kanzlerin war bloß die Galionsfigur. Wahrscheinlich ist Merkel, wenn man vom Persönlichkeitsmerkmal ausgeht, sogar das exakte Gegenteil von feige, das erahnt man in ihren Schilderungen. Leider hat sie ihren großen Mut – der sie mit dem Abschuss des CDU-Übervaters Helmut Kohl in der »FAZ« auch an die Macht brachte – nicht in ihr politisches Handeln einfließen lassen. Im Gegenteil. Die wenigen Momente, an denen man retrospektiv hätte Mut unterstellen können – wie etwa beim Satz »Wir schaffen das« – löst sie im Buch auf als »banal«. Die größte Mutlosigkeit Angela Merkels aber ist und bleibt, in 16 Jahren nicht ein einziges Mal den Versuch einer öffentlich vermittelten Zukunftsvision unternommen zu haben.
Jetzt stehen wir vor den Trümmern einer Politik ohne Vision, ohne Wunsch nach einer Zukunftsperspektive, eine Politik, die strategieloses »Fahren auf Sicht« zu Besonnenheit und Pragmatismus verklärt hat. Deshalb ist dieser Text seinem Wesen nach zunächst ein Abgesang auf Deutschland. Angela Merkel und ihre Politik sind die wichtigsten Gründe, warum dieser Text ein Abgesang sein muss.
Diese Diagnose lässt sich in bedrückende Zahlen gießen. Das Bruttoinlandsprodukt, also die Gesamtwirtschaftskraft des Landes, ist seit 2019 praktisch nicht gewachsen. Als einziges Land der OECD dümpelt Deutschland vor sich hin und reiht ein Rezessionsquartal nach dem anderen aneinander . Die Wirtschaft hellt sich ab und an für ein paar Augenblicke auf, nur um dann eine weitere Hiobsbotschaft geliefert zu bekommen. Deutsche Schlüsselindustrien wie die Automobilwirtschaft sind tief in die Krise gerutscht. Vom mutlosen, aber stabilen Merkeldeutschland haben sich viele in der Wirtschaft anstecken lassen. Sie haben die herrliche Ruhe in der Blase der Realitätsabwehr gern genossen, inklusive der Möglichkeit, wirtschaftliche Erfolge zu feiern – auf Kosten der Substanz. Das ist der zentrale Vorwurf, den man allen Protagonist:innen in Politik und Wirtschaft machen muss: Fast nichts in die Zukunft investiert, stattdessen das Maximum aus der Situation herausgezogen ohne Blick auf den Rest der Welt oder den unaufhaltsamen Wandel durch Globalisierung, Digitalisierung, Demografie. Billige Energie aus Russland, dankbare Exportmärkte in China und den USA, alte und gute, aber oft vordigitale deutsche Produkte an Länder verkauft, die dagegen ihrerseits mit massiven Investitionen und viel Arbeit die digitale Transformation vorangetrieben haben. Deutschland hat sich verhalten wie ein Formel-1-Fahrer, der sich über Platz eins freut, weil er viel zu lange nicht auftankt. Jetzt stottert der Motor, das Land wird überrundet, und es ist unklar, ob und wann beim Boxenstopp wieder alles zum Laufen gebracht werden kann.
Die KfW hat im September die IT-Investitionen verschiedener Länder für das letzte derzeit verfügbare Jahr 2022 gegenübergestellt . Deutschland liegt bei 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Schlechter sind nur noch Luxemburg und Island, zwei Länder, die zusammen weniger Einwohner haben als Köln. Die USA investieren 3,7 Prozent, Frankreich unter Macron 4,6 Prozent des BIP in Informationstechnologie.
Diese Missachtung des 21. Jahrhunderts fußt nicht nur auf Merkels visionsloser Politik, meist mitgetragen von der SPD, sie ist auch der Grund für die nach wie vor beschämende digitale Infrastruktur des Landes. Die Zahlen des Glasfaser-Industrieverbands FTTH Council Europe aus dem letzten vollendeten Jahr zeigen : Hierzulande sind zehn Prozent der Haushalte ans Glasfasernetz angeschlossen. Deutschland liegt damit direkt hinter dem Irak (10,3 Prozent), Algerien (10,6 Prozent) und sogar hinter Österreich (10,6 Prozent). Norwegen und Frankreich stehen bei weit über 60 Prozent der Haushalte, Rumänien, Portugal und Spanien bei über 70 Prozent, Südkorea und China bei weit über 90 Prozent. So fühlt es sich ja auch an.
Eine der größten Unverschämtheiten in Merkels Autobiografie ist eine Passage, in der sie sich darüber beklagt, mit wie viel Häme ihre NSA-Überwachungsentschuldigung »Das Internet ist für uns alle Neuland« aufgenommen wurde. Nur um dann zu schreiben: »Ein Teil der Häme hatte … sicher auch damit zu tun, dass sich der Aufbau einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur, insbesondere in dünn besiedelten Regionen, in Deutschland nur schleppend gestaltete.« Was für eine Frechheit die Formulierung »sich gestaltete« – wenn man exakt zu dieser Zeit die mit Abstand mächtigste Frau der Welt mit damals noch riesiger, stabiler GroKo-Mehrheit in Deutschland war. Und das in Zeiten der überreichlich sprudelnden Steuereinnahmen. Grund für die miserable digitale Infrastruktur ist die große Zahl der katastrophalen Fehlentscheidungen von Merkel und ihren Bundesregierungen.
Und natürlich auch die Schuldenbremse. Im Buch schreibt Merkel eine Satzkombination nieder, die vor dem Hintergrund ihres Schaffens puren Hohn darstellt: »Die Idee der Schuldenbremse mit Blick auf nachfolgende Generationen bleibt richtig. Um aber Verteilungskämpfe in der Gesellschaft zu vermeiden und den Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung gerecht zu werden, muss die Schuldenbremse reformiert werden, damit die Aufnahme höherer Schulden für Zukunftsinvestitionen möglich wird.« Der Hohn besteht daraus, dass im Zweifel nur schwer mögliche Zukunftsinvestitionen – etwa in digitale Infrastruktur – von Beginn an der wichtigste Kritikpunkt an der Schuldenbremse war. Und dass die »Veränderungen im Altersaufbau«, also die Demografie seit Jahrzehnten nahezu perfekt erforscht, sehr präzise vorhersagbar und im Umfang hervorragend bekannt sind und ständig diskutiert wurden. Trotzdem hat die misstrauische Mutloseria die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben, um sie extra unflexibel und superschwer änderbar zu machen. Das Ergebnis ist eine bröckelnde Infrastruktur von Bahn über Brücken bis Schulen; das schuldenbremsige Sparregime stellt so mit der EU-deutschigen Überbürokratie den Hauptgrund für die dramatisch eingebrochene Konkurrenzfähigkeit des Landes dar.
Dagegen liegt der Hauptgrund dafür, dass ich den Abgesang optimistisch wenden möchte, in der ökonomischen und gesellschaftlichen Substanz des Landes einerseits und der Wandelfähigkeit eines großen Teils der Bevölkerung andererseits. Der zweite Punkt mag überraschen. Deutschland wird oft Starre und Veränderungsaversion nachgesagt, und das ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Aber der Blick in die jüngere Geschichte zeigt, dass bereits mit einer einzigen Zutat unter den Menschen in Deutschland eine überraschend große Bereitschaft zur Mitgestaltung des Wandels vorhanden ist.
Diese Zutat ist Einsicht. Wenn die Mehrheit der Menschen etwas einsieht, also aus eigener Überzeugung heraus als halbwegs sinnvoll betrachtet, dann ist sogar Deutschland flexibel, wandelbereit, zukunftsaufgeschlossen. Beispiele gibt es aus vielen politischen und gesellschaftlichen Bereichen. In den Neunzigerjahren fand die Idee eines Solidaritätszuschlags überraschend breite Zustimmung auch in der Bevölkerung, jedenfalls dafür, dass er vom eigenen Geld sehr spürbar abgezogen wurde. Die Ehe für alle wird heute fast nur noch von Rechtsradikalen und Islamisten infrage gestellt. In jüngerer Zeit führte Einsicht bei der Frage der Ukrainehilfen in der Bevölkerung zu einer breiten Unterstützung. Einsicht ist übrigens eine stark unterschätzte Größe in der liberalen Demokratie. Als hätte in Zeiten von Trump irgendwie abgefärbt, dass in der Politik statt breite Einsicht zu erreichen lieber die Mobilisierung der eigenen Truppen durch emotionale Polarisierung angewendet wird.
Nach meiner Wahrnehmung ist die Einsicht in die Notwendigkeit eines ziemlich dramatischen Wandels in Deutschland vorhanden. Wahrscheinlich auch die Einsicht in die Begleiterscheinungen und Folgen, die manchmal unangenehm sein können.
Ein optimistischer Abgesang unterscheidet sich vom schnöden Normal-Abgesang dadurch, dass er sich zwar nicht scheut, eine schonungslose Bestandsaufnahme des schlechten Ist-Zustands durchzuführen. Dann aber konstruktiv und ehrlich nach vorn gerichtet aufzeigt, dass es nicht nur besser werden muss – sondern auch besser werden kann. In diesem Fall sogar mit recht hoher Wahrscheinlichkeit. Denn die wirtschaftliche Substanz des Landes ist nach wie vor sensationell, das muss man sich immer vergegenwärtigen.
Deutschland ist immer noch ein reiches Land, es ist kein ökonomisches One-Trick-Pony, sondern hat viele, tiefe Spezialisierungen.
Ausbildung und Bildungsstände der Workforce sind gut.
Im Mittelstand und teilweise in der Start-up-Sphäre lauert eine nicht geringe Zahl möglicher kommender Welt-Champions.
Insbesondere für die beschämend geringen Investitionen ist selbst die Forschung in Deutschland hervorragend. Sogar in der künstlichen Intelligenz.
Ein optimistischer Abgesang muss enden mit der Aufforderung an alle, offensiv an der Gestaltung des Wandels mitzuarbeiten. Das wirtschaftlich erfolgreiche Deutschland des 20. Jahrhunderts ist dabei, sich abzuschaffen, die Realität holt das Land ein, noch leisten die Mutlosen und Rückwärtsgerichteten Widerstand. Dieser Sinkflug und das reaktionäre Getöse drumherum sind schwierig, aber verkraftbar. Allerdings müsste das neue, erfolgreiche Deutschland des 21. Jahrhunderts jetzt mal langsam anfangen.